RENAS VERSPRECHEN (German Edition)
sich durchs Fenster.
„Ich fand es hübsch, aber den Rock hast du zu kurz ge macht. Da hast du wohl geträumt.“
Ich höre so etwas wie verhaltenes Lachen. „Du bist wun derbar.“
„Ich lebe, mein Freund, und das ist hier etwas Wunderba res. Doch ich danke dir trotzdem für das Kompliment.“
„Wie lange bist du schon hier?“, will er wissen.
„Seit März 1942.“
„Das ist zu lang...“ Er klingt auf einmal sehr traurig.
„Und du?“ Ich höre, wie er vom Fenster weggeht, und schweige.
Manchmal, insbesondere bei Schneeregen, kommt es mir dumm vor, Wächterin der Wäsche zu sein, doch ich habe mei ne Anweisungen. Der Nachmittag schleppt sich dahin. Das sanfte Klopfen auf dem Blechdach über meinem Kopf hört sich an wie ein Schlaflied. Die frische Luft scheint die Gerüche aus der SS-Küche aufzufangen und vor meiner Nase schweben zu lassen. Ob es am Duft gebratenen Fleisches liegt, oder am Geräusch des Schneeregens, wei ss ich nicht, aber plötzlich fin de ich mich in der Vergangenheit wieder. Wie herrlich hat un ser Haus immer am Abend vor Sabbat geduftet - die Gans, der Kugel, die Kartoffelkuchen. Ich sehne mich nach richtiger Hausmannskost und wirklichen Mahlzeiten, die an einem wei ss gedeckten Tisch mit Besteck eingenommen wurden, Mahlzeiten, die stundenlang dauern, weil es so viel zu essen gibt. Ich sehne mich danach, Freunden und Verwandten am Tisch gegenüber zu sitzen und sich an einem wirklichen Ge spräch und Zusammensein zu erfreuen. Ich sehne mich da nach, Mama mit ihrem wei ss en, um den Kopf drapierten Sei denschal zu sehen, wie sie im Wohnzimmer den Kandelaber für Sabbat entzündet.
Laut spricht sie das Sabbatgebet, zweimal streckt sie ihre Arme nach vorne über die Flammen und führt sie wieder zurück zu ihrem Herzen. Dann, die Hände vor beiden Augen, betet sie still. Danka und ich sehen ihr voll Ehrfurcht und Er- Wartung zu. Es ist ein weih evoller Augenblick, wenn auf Ma mas verborgenem Gesicht nur das goldene Licht flackert, um anzudeuten, da ss die Zeit verg eht. Langsam senkt sie ihre Hän de, Tränen glänzen auf ihren Wangen. Nach dem Sabbat-Gebet glänzen immer Tränen in ihren Augen. „Git Shabbes“, wünscht sie uns strahlend. „Einen guten Sabbat, Mama.“ Danka und ich laufen in ihre geöffneten Arme. Papa kehrt vom Tempel zurück, und wir setzen uns zu einem Festmahl nieder; wir fühlen uns so gesegnet, so geliebt.
Beim Gedanken an das zarte Fleisch der gebratenen Gans läuft mir das Wasser im Mund zusammen. Ich seufze.
Die Notiz fällt mir direkt vor die Fü ss e. Ich bücke mich und tue so, als rückte ich meinen Strumpf zurecht, während ich nach der Botschaft greife. Ich wünschte, ich könnte sie auf der Stelle lesen, ohne mich durch den Rest des Nachmittags kämp fen zu müssen, bis wir ins Stabsgebäude zurückkehren. Sie juckt mir in der Hand, aber ich stecke das Briefchen schnell in meine Jacke und unterdrücke den nagenden Wunsch, es zu le sen. Bei einem raschen Blick auf das Fenster, sehe ich Stasiu davonschlurfen. Wieder einmal bin ich allein mit dem Plat schen des Schneeregens.
An diesem Abend lesen wir Stasius Nachricht, als wäre es die Tageszeitung; so wichtig ist diese Kommunikation für uns.
„Ich bin seit 1939 hier. Der Chef hat Nummer 45. Er ist von denen, die noch am Leben sind, am längsten hier.“ Wir starren auf seine Worte und erfassen die nackte Wahrheit. Es ist un möglich, zu glauben, die Jahre könnten vergehen und wir wären immer noch da, aber Stasiu ist der Beweis dafür. Wir sind der Beweis. Ich knülle seine Notiz zusammen und gehe langsam zur Toilette. Die Papierfetzen wirbeln nach unten und ziehen alle Aussicht auf ein Leben in Freiheit mit sich.
Nach dem Appell bekommen wir zehn Päckchen vom Roten Kreuz. Es stehen keine Namen darauf wie in Birkenau, aber Maria sagt uns: „Teilt das unter euch auf so gut ihr könnt.“ Wir starren unentwegt auf diese Päckchen, ganz wild darauf, die braune Verpackung abzurei ss en, um an die Leckereien zu kommen.
„Ich denke, wir sollten abstimmen, wer die Sachen aufteilt“, schlägt Mania vor.
„Ich denke, Rena sollte das tun“, meint Janka. „Sie ist sehr pingelig und ehrlich.“
„Alle, die für Rena sind, heben ihre Hand.“ Ich kann mei nen Augen nicht glauben; jede Hand im Raum ist oben. Alle einhundertfünfundzwanzig Mädchen stimmen für mich. Wir machen die Päckchen auf, als wäre ein Feiertag, wenn es für so viele auch nicht zum Festschmaus reicht. Ich lege
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