Rendezvous im Hyde Park
zurück, stieß fluchend gegen einen Tisch und hätte beinahe ganz das Gleichgewicht verloren. Annabel hatte gerade genug Zeit, die Röcke zu lüpfen und davonzulaufen. Sie hatte keine Ahnung, ob Lord Newbury sie verfolgte; sie hielt erst wieder an, als sie durch eine Terrassentür nach draußen in den Garten gelaufen war. Keuchend lehnte sie sich an die Hauswand, Ihr Herz hämmerte, und ihre Haut war von einem dünnen Schweißfilm überzogen, sodass sie in der kühlen Nachtluft schauderte.
Sie fühlte sich schmutzig. Nicht im Inneren. Lord Newbury hatte sie nicht dazu gebracht, ihre eigenen Werte und Überzeugungen infrage zu stellen. Aber ihr Äußeres, dort, wo er sie berührt hatte ...
Am liebsten hätte sie sofort ein Bad genommen, sich mit einem Waschtuch und einem dicken Stück Seife jede letzte Spur von ihm abgeschrubbt. Selbst jetzt fühlte sich ihre rechte Brust, nachdem er sie begrapscht hatte, merkwürdig an. Weh tat sie nicht. Sie fühlte sich einfach falsch an.
Das spürte sie am ganzen Körper. Ihr tat nichts weh, aber es fühlte sich alles irgendwie ganz falsch an.
In der Ferne sah sie das Licht der Fackeln hinter dem Haus, doch hier an der Seite war alles finster. Dieser Teil des Parks war anscheinend nicht für die Gäste vorgesehen.
Sie sollte nicht hier sein, das war ihr klar, aber sie konnte sich nicht dazu überwinden, auf die Gesellschaft zurückzukehren. Noch nicht.
Auf der Rasenfläche entdeckte sie eine steinerne Bank. Sie ging hinüber und ließ sich darauf nieder und gestattete sich ein hörbares „Uff!" Derart undamenhafte Geräusche und unelegante Gesten konnte sie sich in London nicht erlauben.
Im Gegensatz zu ihrer Heimat Gloucestershire: Wenn sie mit ihren Geschwistern zu Hause herumtobte, war dergleichen an der Tagesordnung gewesen.
Sie vermisste ihr Zuhause. Sie vermisste ihr Bett, ihren Hund und die Pflaumentörtchen der Köchin.
Sie vermisste ihre Mutter, sie vermisste ihren Vater, und vor allem vermisste sie festen Boden unter den Füßen. In Gloucestershire kannte sie sich aus. Sie wusste, was von ihr erwartet wurde. Sie wusste, was sie von den anderen erwarten konnte.
War es denn vermessen, sich zu wünschen, dass man wusste, was man tat? Das war doch gewiss nicht zu viel verlangt!
Sie sah auf, suchte den Himmel nach Sternbildern ab. Vom Haus kam zu viel Licht, um das Firmament klar erkennen zu können, doch hier und da leuchteten ein paar Sterne.
Vermutlich müssen sie gegen die Helligkeit ankämpfen, dachte Annabel, damit man sie leuchten sieht. Die Nacht war mit Licht verunreinigt, mit Helligkeit. Irgendwie war das falsch.
„Fünf Minuten", sagte sie laut. In fünf Minuten wollte sie auf den Ball zurückkehren. In fünf Minuten hätte sie ihr Gleichgewicht wiedergefunden. In fünf Minuten wäre sie wieder in der Lage, ein Lächeln aufzusetzen und vor dem Mann zu knicksen, der sie eben so bedrängt hatte.
In fünf Minuten würde sie sich sagen, dass sie in der Lage wäre, ihn zu heiraten. Mit ein wenig Glück würde sie das in zehn Minuten vielleicht auch glauben. Doch erst einmal hatte sie noch vier Minuten für sich. Vier Minuten. Oder auch nicht.
Annabel vernahm leises Wispern und spitzte die Ohren.
Stirnrunzelnd drehte sie sich auf der Bank um und blickte zum Haus. Sie sah zwei Leute durch die Terrassentür treten, einen Mann und eine Frau, wie es den Anschein hatte. Sie stöhnte auf. Bestimmt schlichen sich die beiden zu einem Stelldichein nach draußen. Eine andere Erklärung gab es nicht. Wenn sie diesen Teil des Gartens und diese Tür gewählt hatten, dann um nicht gesehen zu werden.
Annabel wollte ihnen den Spaß nicht verderben.
Sie sprang auf, um sich einen anderen Weg zurück ins Haus zu suchen, doch das Paar kam so rasch näher, dass ihr nichts anderes übrig blieb, als sich tiefer in die Schatten zurückzuziehen, wenn sie den beiden nicht begegnen wollte.
Sie bewegte sich, so schnell sie konnte, ohne zu rennen, bis sie eine Hecke erreichte, die offenbar die Grenze des Anwesens markierte. Die Vorstellung, sich durch die Dornenranken zu zwängen, behagte ihr nicht sonderlich, und so wandte sie sich nach links, wo sie einen Durchgang erspähte, der vermutlich auf die Heide führte.
Die Heide. Dieser wunderbare, herrliche Raum, der all das aufwies, was London nicht besaß. Allerdings sollte sie jetzt wirklich nicht gerade hier sein. Wirklich und wahrhaftig nicht. Louisa wäre entsetzt. Ihr Großvater wäre außer sich vor Zorn. Ihre
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