Rendezvous im Hyde Park
konnte.
Ohne ihm ihren Namen zu verraten.
Am folgenden Nachmittag
Du bist heute schrecklich still", sagte Louisa.
Annabel schenkte ihrer Cousine ein mattes Lächeln. Sie führten Louisas Hund im Hyde Park spazieren, begleitet von Louisas Tante, zumindest theoretisch. Lady Cosgrave hatte jedoch eine ihrer vielen Bekannten getroffen und war zwar noch in Sicht-, nicht aber in Hörweite.
„Ich bin einfach nur müde", sagte Annabel. „Nach der aufregenden Gesellschaft gestern Abend konnte ich nicht schlafen." Das war nicht die ganze Wahrheit, aber gelogen war es auch nicht. Sie hatte in dieser Nacht stundenlang wach gelegen und dabei ausführlich die Innenseite ihrer Augenlider betrachtet.
Sie weigerte sich, zur Decke hinaufzustarren. Aus Prinzip. So hatte sie schon immer empfunden. Wenn man Schlaf suchte, waren offene Augen ein klares Eingeständnis der Niederlage.
Trotzdem, egal wohin sie sah - an der Ungeheuerlichkeit ihrer Taten kam sie nicht vorbei.
Sebastian Grey.
Sebastian Grey.
Die Worte hallten wie ein elendes Stöhnen in ihrem Kopf wider. Auf der Liste mit Männern, die sie nicht küssen durfte, musste er ganz oben rangieren, zusammen mit dem König, Lord Liverpool und dem Schornsteinfeger.
Wahrscheinlich kam er sogar noch vor dem Schornsteinfeger.
Vor dem Ball bei den Trowbridges hatte sie nicht viel über Mr Grey gewusst, nur dass er Lord Newburys Erbe war und die beiden Männer sich nicht ausstehen konnten.
Aber sobald sich herumgesprochen hatte, dass Lord Newbury es auf sie abgesehen hatte, hatte ihr anscheinend jeder irgendetwas über den Earl und seinen Neffen zu erzählen.
Ach, na gut, vielleicht nicht jeder, da sich der Großteil der Gesellschaft nicht weiter für sie interessierte, aber alle, die sie kannte, hatten zu diesem Thema eine Meinung.
Er war attraktiv. (Der Neffe, nicht der Earl.) Er war ein Spitzbube. (Wieder der Neffe.) Er war vermutlich arm wie eine Kirchenmaus und verbrachte viel Zeit mit seinen Cousins mütterlicherseits.
(Entschieden der Neffe, und das war auch gut so, denn wenn Annabel Lord Newbury heiratete und dann feststellen musste, dass er arm war wie eine Kirchenmaus, würde sie fuchsteufelswild werden.)
Annabel hatte den Ball direkt nach der katastrophalen Episode auf der Heide verlassen, Mr Grey offenbar nicht.
Er musste Louisa ziemlich beeindruckt haben, denn an diesem Morgen konnte sie von nichts anderem sprechen, du lieber Himmel.
Mr Grey hier, Mr Grey da, und wie es wohl möglich gewesen war, dass Annabel ihn auf dem Ball gar nicht gesehen hatte? Annabel hatte mit den Schultern gezuckt und irgendetwas von „Keine Ahnung" gemurmelt, aber es half nichts, Louisa hörte nicht auf, von seinem Lächeln zu schwatzen und dass seine Augen grau wären, und wäre das nicht ein unglaublicher Zufall, und ja, jeder hätte bemerkt, dass er am Arm einer verheirateten Frau weggegangen wäre.
Letztere Information überraschte Annabel nicht. Er hatte ihr ganz offen gesagt, dass er sich mit einer verheirateten Frau vergnügt hatte, ehe sie über ihn gestolpert war.
Aber Annabel hatte das Gefühl, dass es sich dabei um eine andere verheiratete Frau gehandelt hatte. Die Frau auf der Decke hatte auf ihren Ruf geachtet, hatte den Schauplatz eine ganze Weile vor Mr Grey verlassen. Jemand, der solche Vorsichtsmaßnahmen traf, würde den Ball dann nicht schamlos an seinem Arm verlassen. Was bedeutete, dass es eine andere gewesen sein musste, was wiederum hieß, dass er sich mit zwei verheirateten Frauen vergnügt hatte. Lieber Himmel, der Mann war ja noch schlimmer, als die Leute sagten.
Annabel presste die Finger an die Schläfen. Kein Wunder, dass ihr der Kopf schmerzte. Sie dachte zu angestrengt nach. Nein, sie dachte zu viel nach, und über zu triviale Dinge. Wenn sie schon eine fixe Idee entwickeln musste, konnte sie sich da nicht etwas Sinnvolleres aussuchen?
Zum Beispiel das neue Gesetz zum Schutz der Nutztiere?
Oder das Elend der Armen? Ihr Großvater hatte sich diese Woche über beides echauffiert, daher hatte Annabel keine Rechtfertigung, sich nicht für diese Dinge zu interessieren.
„Tut dir der Kopf weh?", fragte Louisa. Doch sie achtete nicht groß auf sie. Frederick, ihr lächerlich fetter Bas-set, hatte in der Ferne einen Hundekollegen erspäht und zerrte an der Leine. „Frederick!", rief sie und stolperte zwei Schritte, ehe sie wieder Fuß fasste.
Frederick blieb stehen, auch wenn nicht klar war, ob es daran lag, dass Louisa die Leine festhielt, oder
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