Rendezvous mit Rama
er damals gewonnen hatte, kehrten nun in seine Erinnerung zurück - nur waren die Dimensionen ins Riesenhafte vergrößert. Er hatte das gleiche ehrfürchtige Gefühl, vor einem Geheimnis zu stehen, vermischt mit der Trauer über eine unwiderruflich entschwundene Vergangenheit. Doch hier waren die Maßstäbe so viel größer, im Zeitlichen wie im Räumlichen, dass das Gehirn ihnen nicht gerecht werden konnte; nach einer Weile hörte es auf zu reagieren. Norton fragte sich, ob er irgendwann selbst Rama für selbstverständlich halten würde.
In einem Punkt allerdings stimmte die Parallele zu den irdischen Ruinen überhaupt nicht. Rama war hundertmal älter als irgendein Bauwerk, das auf der Erde erhalten geblieben war - älter selbst als die Große Pyramide. Aber hier wirkte alles vollkommen neu; nichts deutete auf Abnutzung und Verfall hin.
Norton hatte an dieser Tatsache ziemlich lange herumgerätselt und war schließlich auf eine halbwegs plausible Erklärung gestoßen. Alles, was sie bisher untersucht hatten, war Teil eines Katastrophen-Hilfssystems gewesen, und derartige Systeme werden nur sehr selten wirklich eingesetzt. Er konnte sich nicht vorstellen, dass die Ramaner - es sei denn, sie wären fanatische Verfechter der Körperertüchtigung gewesen, wie man sie auch auf der Erde nicht selten antraf -jemals diese unglaubliche
Treppe oder die beiden anderen identischen hinauf- und hinabgestiegen waren, die das unsichtbare Y über ihm bildeten. Vielleicht wurden die Treppen nur während der Konstruktion Ramas benötigt und hatten seit jenem fernen Tag keinen Zweck mehr erfüllt. Diese Theorie musste für den Augenblick genügen. Dennoch schien sie Norton irgendwie nicht richtig zu sein. Irgendetwas stimmte da offensichtlich nicht...
Die letzten tausend Meter rutschten sie nicht mehr auf dem Geländer, sondern nahmen je zwei Stufen in langen gleitenden Sätzen; auf diese Weise wurden ihre Muskeln besser durchgearbeitet, so hatte Norton entschieden, und die Muskeln würden sie bald brauchen. Sie kamen fast überraschend am Ende der Treppe an; plötzlich waren da keine Stufen mehr - nur noch eine flache Ebene, die im jetzt schwächeren Licht des Suchscheinwerfers von der Nabe trübgrau wirkte, einem Licht, das ein paar hundert Meter vor ihnen von der Finsternis verschluckt wurde.
Norton blickte den Lichtstrahl entlang zu seinem Ausgangspunkt an der Achse oben. Über acht Kilometer weit weg war das. Er wusste, dass Mercer sie durch ein Teleskop beobachtete, darum winkte er ihm freundlich zu.
»Hier der Käpt'n«, meldete er sich über Funk. »Fühlen uns alle prima - keine Probleme. Gehen vor wie geplant.«
»Okay«, antwortete Mercer. »Wir werden euch zuschauen.«
Es folgte ein kurzes Schweigen, dann meldete sich eine Stimme: »Hier der Diensthabende an Bord. Also wirklich, Skipper, das langt nicht. Sie wissen doch, wie uns die Nachrichtendienste die ganze vergangene Woche belagert haben. Ich erwarte ja keine unsterbliche Prosa, aber können Sie nicht ein bisschen was Besseres liefern als das?«
»Ich will's versuchen«, sagte Norton kichernd. »Aber vergesst nicht, es gibt einfach noch nichts zu sehen. Es ist - also, wie wenn man auf einer riesigen dunklen Bühne mit nur einem Scheinwerfer steht. Die ersten paar hundert Stufen steigen aus dem Licht auf, bis sie oben im Dunkeln verschwinden. Was wir von der Ebene sehen können, wirkt vollkommen flach - die Krümmung ist zu gering, als dass man sie in diesem begrenzten Bereich erkennen könnte. Und das ist auch schon alles.«
»Könnten Sie uns ein paar Eindrücke geben?«
»Also, es ist immer noch ziemlich kalt - unter null -, und wir sind dankbar für unsere Thermoanzüge. Und still ist es, natürlich. Stiller als alles, was mir jemals auf der Erde oder im Raum vorgekommen ist, denn da gibt es ja immer irgendwelche Hintergrundgeräusche. Hier wird jedes Geräusch aufgesogen, und der Raum um uns ist so riesig, dass es kein Echo gibt. Es ist unheimlich, aber ich hoffe, wir werden uns daran gewöhnen.«
»Danke, Skipper. Möchte sonst wer was sagen - Joe, Boris?«
Leutnant Joe Calvert war nie um Worte verlegen, und er war glücklich, sich nützlich zu machen.
»Ich muss immer daran denken, dass dies das erste Mal überhaupt ist, dass wir auf einer anderen Welt herumwandern und ihre natürliche Atmosphäre atmen können - allerdings glaube ich, dass >natürlich< kaum der richtige Ausdruck für diesen Ort hier ist. Aber Rama muss der Welt seiner
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