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Rendezvous um Mitternacht

Rendezvous um Mitternacht

Titel: Rendezvous um Mitternacht Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Victoria Laurie
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zu schweben und dem da oben in die Augen zu sehen. Stattdessen erschaffen sie sich ein Portal zu einer niederen Ebene und springen zwischen dieser und unserer Welt hin und her. Wenn ich so einen treffe, stelle ich ihn vor die Wahl: Entweder muss er rauf und seinem Schöpfer gegenübertreten, oder er wird hinter seinem Türchen eingeschlossen.«
    »Das klingt gefährlich«, sagte Steven.
    Ich dachte an gestern Morgen zurück. »Es kann manchmal ein bisschen heikel werden. Aber solange man einen kühlen Kopf bewahrt, setzt man sich normalerweise durch.« Ich rollte eine Portion Nudeln auf meine Gabel und fragte: »Wer waren Miguel und Rita?«
    Steven ließ sich Zeit, einen Schluck Wein zu nehmen, ehe er antwortete. »Als wir zehn Jahre alt waren, ertrank Miguel im Fluss in der Nähe unseres Hauses in Argentinien. Wir spielten am Ufer Fußball, und der Ball fiel ins Wasser. Am Tag vorher hatte es geregnet, und wir erkannten nicht, dass die Strömung … wild war?«
    »Reißend.«
    »Ja, genau. Dass die Strömung reißend war. Miguel sprang dem Ball nach und ging sofort unter. Ich rannte, um Hilfe zu holen, aber als wir zurückkamen, war er nirgends zu sehen. Am Abend wurde seine Leiche eine Meile weiter flussabwärts gefunden. Ich habe mich immer … voller Schuld gefühlt.«
    »Schuldig gefühlt.«
    »Ja. Schuldig an seinem Tod«, ergänzte er leise.
    Tief in mir spürte ich so etwas wie ein heftiges Kopfschütteln. »Er meint, Sie trifft keine Schuld, Steven. Er beharrt darauf, dass Sie nichts dafür können und gar nicht anders handeln durften. Sie wären sonst auch ertrunken.«
    Er nickte und hob flüchtig die Schultern. Dann schwenkte er einen Augenblick den Wein in seinem Glas, ehe er weitersprach. »Rita war die Tante meiner Mutter. Sie war ganz nett, aber sehr streng und … religionisch?«
    »Religiös?«
    »Ja, streng und religiös. Sie wohnte bei uns und passte auf mich auf, wenn meine Mutter arbeitete. Ich mochte das nicht, denn Rita zwang mich immer, viele Stunden vor einer Statue der Madonna zu beten.«
    »Wie alt waren Sie da?«
    »Fünf. Eines Tages rief eine Nachbarin nach Rita, und sie ließ mich allein vor der Statue. Ich dachte in meinem kleinen Kopf, dass ich nicht mehr so viel beten müsste, wenn die Madonna weg wäre. Also habe ich ein Seil geholt und einen … Kreis?«
    »Schlinge?«
    »Ja, eine Schlinge gemacht, um den Hals der Madonna gelegt und versucht, sie über das Treppengeländer in den ersten Stock zu ziehen.«
    Ich machte große Augen.
    »Ich zog und zog, aber meine Arme wurden müde, darum habe ich das Seil um …« Er zeigte auf einen Pfeiler im Wohnzimmer, hinter dem sich die Küche anschloss.
    »Um einen Pfeiler gebunden«, sagte ich. In meiner Kehle stieg ein Kichern auf bei der Vorstellung, wie Steven als Fünfjähriger in aller Unschuld die Jungfrau Maria erhängte.
    »Nun«, schloss Steven, »dann kam Rita zurück. Sie sah nur die Heilige Jungfrau mit dem Seil um den Hals neben der Treppe baumeln und rannte schreiend davon.«
    Ich musste lachen. »Was hat Ihre Mutter gesagt?«
    »Sie sagte Rita, sie solle aufhören, mit mir zu beten. Es habe ja wohl nicht das gewünschte Ergebnis.«
    Wir lachten beide. Dann wechselte ich das Thema. »Ich vermute, Sie sind hierher gezogen, um die Angelegenheiten Ihres Großvaters zu ordnen und Ihr Erbe anzutreten?«
    »Ja, und außerdem habe ich ein sehr gutes Angebot von der Medizinischen Fakultät der Bostoner Universität bekommen. Ich mochte Amerika schon immer. Ich wünschte nur, ich wäre schon hierher gezogen, als mein Großvater noch lebte.« Ich spürte, wie ihn Schuldgefühle überkamen.
    »Sie dachten, Sie hätten mehr Zeit.«
    »Ja. Aber es sollte nicht sein. Daher habe ich mir geschworen, wenigstens herauszufinden, was vor seinem Tod wirklich geschah.«
    »Das muss ein Schock gewesen sein«, sagte ich. »Sie kommen her, fahren zu der Jagdhütte und treffen den Geist Ihres Großvaters.«
    Steven nickte. »Deshalb denke ich, dass ihm etwas sehr Schlimmes zugestoßen ist. Sein Geist hat keine Ruhe gefunden. Es ist meine Pflicht, ihm zu helfen, ins Jenseits zu gelangen.«
    Ich lächelte. »Wir bringen ihn hin, keine Sorge. Wo steht die Jagdhütte?«
    »Westlich von hier, nahe der Grenze zum Staat New York, in einem kleinen Ort namens Uphamshire.«
    »Warum hat die Polizei es wohl sofort als Selbstmord abgetan?«, fragte ich mich laut.
    »Man fand einen Zettel auf dem Tisch im Schlafzimmer.«
    Ich legte den Kopf schief. »Er hat eine

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