Rendezvous um Mitternacht
Zuerst kam es mir vor, als müsse er in dem Gästezimmer mit dem Foto und dem Schaukelstuhl ankommen, aber ein rascher Blick durch die Tür zeigte, dass es dort keine Aufzugtüren gab.
Da brach der Lärm schließlich ab. Der Aufzug hatte angehalten. Doch noch immer war nicht eindeutig zu sagen, wo. »Die Tür muss versteckt sein«, sagte Steven. »Du schaust in diesem Zimmer, ich in diesem. Schrei mich, wenn du sie findest.«
Ich eilte in das Gästezimmer und horchte aufmerksam. Da war mir, als hörte ich aus einem der Einbauschränke in der gegenüberliegenden Wand ein feines Sirren. Ich sprang hin und öffnete ihn.
Vor mir lag ein leerer begehbarer Schrank. Seine Rückwand wurde von der Aufzugtür gebildet. Sie glitt auf, und die Temperatur sank. »Steven!«, rief ich und öffnete meine Sinne. »Hierher!«
Stevens Schritte näherten sich, aber meine Aufmerksamkeit wurde von dem Gegenstand auf dem Boden der Kabine in Anspruch genommen. Ich trat hin und hob ihn auf. Da war Steven auch schon hinter mir und fragte: »Was ist das?«
Ich drehte das Schraubglas in der Hand hin und her. »Honig.«
»Was macht Honig im Aufzug?«
»Verdammt gute Frage«, murmelte ich.
»Was sagt deine unsinnige Wahrnehmung?«
»Außersinnliche Wahrnehmung«, berichtigte ich. »Halt mal.« Ich drückte ihm den Honig in die Hand und schloss die Augen. Gedanklich streckte ich die Fühler nach der Energie aus, bat sie, näher zu kommen und mit mir zu sprechen. Ich hatte den Eindruck einer weiblichen Energie, und ihr Bild war plötzlich sehr klar. Sie hatte braunes, schulterlanges Haar, das sich unten leicht wellte, und haselnussbraune Augen. Ihre Nase war lang und schmal, ebenso ihr Kinn. Sie war nicht sehr groß, sogar einige Zentimeter kleiner als ich, ihre Figur war durchschnittlich bis leicht füllig, und sie trug einen langen Rock und eine weiße Bluse. Die Vision dauerte nur ein, zwei Sekunden, aber ich hatte sie erkannt.
»Es ist eine Frau«, sagte ich.
»Kannst du sie sehen?«
Ich öffnete die Augen und sah Steven an. »Ja. Und sie kommt mir extrem bekannt vor. Komm.« Ich durchquerte das Zimmer und nahm das Foto von dem Nachttisch. »Sie ist es. Maureen.«
»Bist du sicher?«
»Ja. Sie sah genau so aus, nur älter.«
»Wie viel älter?«
»Zehn, zwanzig Jahre. Aber sie ist es, kein Zweifel.«
Da knarrte es hinter uns. Für einen Sekundenbruchteil sahen wir uns an, dann drehten wir uns zur Zimmerecke um, wo der Schaukelstuhl schon wieder in Bewegung war. Ich sandte ihm einen telepathischen Ruf zu, da ich spürte, dass ihn die Frau bewegte. Wer bist du?
Folge den Bienen …
»Was?«, fragte ich laut.
Steven sah mich verwundert an. »Ich habe nichts gesagt.«
Folge den Bienen …
Okay, mach ich, rief ich im Geiste, aber sag mir bitte, wer du bist und warum du hier verweilst. Ich kann dir helfen hinüberzugelangen.
Der Schaukelstuhl hielt abrupt an, und plötzlich waren die winzigen Sphären wieder da und schwirrten im Zickzack um den Stuhl herum. Sie sahen tatsächlich aus wie Bienen vor einem Bienenstock.
»Da!« Ich zeigte darauf. Mit offenem Mund sahen wir zu, wie die Lichtkügelchen den Stuhl umkreisten. Dann flogen sie eines nach der anderen zum Fenster und durch das Glas, als sei es nicht vorhanden.
»Was ist das?!«, flüsterte Steven.
»Geisterbienen«, sagte ich und sah ihnen durchs Fenster nach, wohin sie flogen. Sie waren noch als flirrende Funken in der Finsternis zu sehen. Steven gesellte sich zu mir. Gemeinsam beobachteten wir, wie der kleine Schwärm tiefer sank und auf Bodenhöhe über den Rasen davonschwirrte.
»Wo fliegen die hin?«, wollte Steven wissen.
»Ich weiß es nicht, aber wir sollen ihnen folgen.«
»Woher weißt du das?«
»Maureen hat es gesagt.« Ich deutete auf den Funkenschwarm, der kurz vor dem Waldrand anhielt und in einer dichten Wolke auf der Stelle tanzte. »Komm.« Ich fasste seine Hand und zog ihn vom Fenster weg. »Wir müssen ihnen nach.«
Wir liefen die Treppe hinunter. Unten zögerte ich kurz, welcher Weg der schnellste wäre. »Hier«, sagte Steven und rannte schon nach links.
Wir durchquerten den Flur, wo Steven rasch die Taschenlampe von der Konsole nahm, dann die Bibliothek und nahmen dort eine Glastür nach draußen. Zu meiner Erleichterung waren die Bienen noch da. Kaum waren wir bis auf drei Meter herangekommen, hörten sie auf, auf der Stelle zu tanzen, und flogen in einer Reihe in den Wald hinein.
»Kannst du die Lampe anmachen?«, flüsterte ich Steven
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