Rendezvous
der Bibliothek inne. Augusta hielt den Atem an und war unermesslich froh darüber, dass Harry bei ihr war.
Die Tür ging auf, und jemand betrat die Bibliothek. Augusta stellte das Atmen gänzlich ein. Lieber Gott, was für eine abscheuliche Lage. Und es ist alles meine Schuld. Heute Nacht könnte es mir durchaus gelingen, den Earl of Graystone, diesen Ausbund an Tugend, in einen Skandal zu verwickeln. Das würde er mir nie verzeihen.
Harry, der neben ihr kauerte, rührte sich nicht. Falls ihm die Aussicht auf eine drohend bevorstehende Demütigung und eine gesellschaftliche Katastrophe übermäßige Sorge bereiteten, dann zeigte er es nicht. Er schien unnatürlich ruhig zu sein, ja, sogar gleichgültig, als die Situation auf den kritischen Punkt zusteuerte.
Die Schritte überquerten den Teppich. Glas klirrte, als jemand die Cognac-Karaffe neben dem Ohrensessel in die Hand nahm. Wer es auch sein mochte, gleich würde er sich umdrehen und Licht machen, dachte Augusta voller Entsetzen.
Aber im nächsten Moment wandten sich die Schritte wieder der Tür zu. Sie schloss sich leise, und die Schritte entfernten sich im Korridor. Augusta und Harry waren wieder allein in der Bibliothek.
Harry wartete ein paar Herzschläge lang, und dann sprang er auf und zog Augusta auf die Füße. Er versetzte ihr einen kleinen Stoß. »Durchs Fenster. Beeil dich.«
Augusta rannte zum Fenster und öffnete es. Harry packte sie um die Taille und hob sie auf die Fensterbank.
»Woher, zum Teufel, hast du diese Hose?« murmelte er.
»Sie hat meinem Bruder gehört.«
»Besitzt du denn gar kein Gefühl für Schicklichkeit?«
»Sehr wenig, Graystone.« Augusta landete auf dem Gras und drehte sich um und beobachtete, wie er aus dem Fenster sprang.
»In einer kleinen Gasse, die von der Straße abgeht, wartet eine Kutsche.« Harry schloss das Fenster hinter sich und nahm ihren Arm. »Komm schon.«
Augusta warf noch einen Blick über die Schulter und sah, wie in einem der Fenster im oberen Stockwerk ein Licht anging. Lovejoy
machte sich bereit, ins Bett zu gehen. Sie waren nur knapp davongekommen, und noch hatten sie es nicht geschafft. Wenn Lovejoy zufällig einen Blick aus dem Fenster warf und in den kleinen Garten hinunterschaute, konnte er mühelos sehen, wie zwei verschwommene Gestalten auf das Tor zurannten.
Aber es ertönte kein wütender Schrei, der das ganze Haus aufweckte, als Harry und Augusta durch das Gartentor verschwanden.
Augusta konnte spüren, dass sich Harrys Finger wie Fesseln um ihren Oberarm spannten, als er sie schnell über die Straße führte.
Eine Mietdroschke fuhr an ihnen vorbei, dann ein Einspänner mit zwei offensichtlich angeheiterten jungen Gecken. Aber niemand schenkte dem Mann in dem schwarzen Mantel oder seiner Begleiterin auch nur die geringste Beachtung.
Auf halber Strecke riss Harry Augusta abrupt herum und bog mit ihr in eine schmale Gasse ein, kaum mehr als ein Fußweg. Der Pfad wurde fast gänzlich von einer vornehmen geschlossenen Kutsche versperrt, die ein bekanntes Wappen zierte.
»Das ist doch Lady Arbuthnotts Kutsche, oder nicht?« Augusta wandte sich verblüfft zu Harry um. »Was hat sie denn hier zu suchen? Ich weiß, dass du mit ihr befreundet bist, aber du hast sie doch gewiss nicht um eine solche Tageszeit aus dem Haus gelockt. Sie ist viel zu krank für Ausflüge.«
»Sie ist nicht da. Sie war nur so freundlich, mir die Kutsche zu leihen, damit mein eigenes Wappen nicht in diesem Stadtteil gesehen wird. Steig ein. Schnell.«
Augusta wollte ihm gerade gehorchen, doch dann blieb sie noch einmal stehen und schaute zu der Gestalt auf, die auf dem Kutschbock saß und ihr durchaus vertraut war. Der Mann war in einen Umhang aus vielen Lagen Stoff gehüllt und trug einen Hut, den er sich tief über die buschigen Augenbrauen gezogen hatte, doch Augusta erkannte ihn sofort.
»Scruggs, sind Sie das?«
»Ja, Miss Ballinger, ich fürchte, ich bin es«, knurrte Scruggs gekränkt. »Man hat mich aus meinem warmen Bett geholt, ja, wirklich, ohne mich auch nur zu fragen, ob es mir recht ist. Ich halte mir zugute, ein erstklassiger Butler zu sein, aber ich werde nicht dafür bezahlt, die Leute durch die Gegend zu kutschieren. Trotzdem hat man mir heute Nacht befohlen, den Kutscher zu spielen, und ich werde mein Bestes tun, obwohl ich mir nicht vorstellen kann, dass ich dafür ein lohnendes Trinkgeld bekomme.«
Sie sollten die Nachtluft wirklich meiden«, sagte Augusta stirnrunzelnd. »Sie tut Ihrem
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