Rendezvous
Bild stehen und hielt den Leuchter hoch, um jedes einzelne Gesicht in den schweren vergoldeten Rahmen zu betrachten. Der Mondschein, der durch die hohen Fenster fiel, die die vordere Front der Galerie säumten, tauchte sie in einen silbrigen Glanz und ließ sie nur um so geisterhafter erscheinen.
Harry wartete, bis sie das Bild seines Vaters betrachtete, ehe er vortrat.
»Man hat mir gesagt, dass ich ihm sehr ähnlich sehe«, sagte er leise. »Ich habe das nie als ein Kompliment aufgefasst.«
»Harry.« Die Flamme flackerte wüst, als Augusta herumwirbelte und sich mit der Hand an die Kehle griff. »Gütiger Himmel. Ich wusste nicht, dass du hier bist. Du hast mir einen fürchterlichen Schrecken eingejagt.«
»Entschuldige bitte. Was hast du mitten in der Nacht hier draußen zu suchen?«
»Ich war neugierig.«
»Auf meine Vorfahren?«
»Ja.«
»Warum?«
»Tja, also, ich habe in meinem Bett gelegen und mir überlegt, dass sie jetzt schließlich auch meine Vorfahren sind, oder nicht? Und mir ist bewusst geworden, dass ich über keinen von ihnen allzu viel weiß.«
Harry verschränkte die Arme vor der Brust und lehnte unter dem finsteren Gesicht seines Vaters eine Schulter an die Wand. »Wenn ich du wäre, hätte ich es nicht besonders eilig, diese Bande für mich zu beanspruchen. Nach allem, was ich gehört habe, ist nicht eine einzige besonders liebenswerte Seele darunter.«
»Was ist mit deinem Vater? Er wirkt sehr stark und edel.« Sie blickte zu dem Porträt auf.
»Vielleicht war er das, als er für dieses Modell gesessen hat. Ich kenne ihn nur als einen erbitterten und zornigen Mann, der sich nie mit dem Umstand abfinden konnte, dass meine Mutter kurz nach meiner Geburt mit einem italienischen Grafen ausgerissen ist.«
»Gütiger Himmel. Wie furchtbar. Was ist passiert?«
»Sie ist in Italien gestorben. Mein Vater hat sich eine Woche lang mit ein paar Flaschen in der Bibliothek eingeschlossen, als er die Nachricht erhalten hat. Er hat sich bewusstlos getrunken. Als er wieder herausgekommen ist, hat er verboten, ihren Namen in diesem Haus jemals wieder zu nennen.«
»Ich verstehe.« Augusta warf einen forschenden Seitenblick auf ihn. »Die Earls of Graystone haben wohl eher Pech mit den Frauen gehabt, stimmt's?«
Harry zuckte die Achseln. »Die diversen Gräfinnen von Graystone waren für ihren Mangel an Tugend berüchtigt. Meine Großmutter hatte mehr Affären, als man zählen konnte.«
»Nun, in der besseren Gesellschaft ist das Mode, Harry. So viele Ehen werden um des Geldes und des Status wegen geschlossen und nicht aus Liebe, und daher muss es wohl zweifellos zwangsläufig zu solchen Dingen kommen. Die Menschen suchen instinktiv Liebe, glaube ich. Und wenn sie sie in der Ehe nicht finden, sehen sich viele außerhalb der Ehe danach um.«
»Du darfst noch nicht einmal daran denken, dir etwas außerhalb unserer Ehe zu suchen, von dem du das Gefühl haben könntest, dass es dir in unserer Verbindung fehlt, Augusta.«
Sie warf sich das dunkle Haar über die Schulter und sah ihn finster an. »Sag es mir ehrlich, waren die diversen Earls of Graystone tugendhafter als ihre Gräfinnen?«
»Wahrscheinlich nicht«, gab Harry zu und erinnerte sich an die Reihe von leidenschaftlichen Liaisons seines Großvaters und an die endlose Parade von kostspieligen Mätressen, die bei seinem Vater ein und aus gegangen waren. »Aber man neigt dazu, mangelnde Tugend bei einer Frau deutlicher wahrzunehmen als bei einem Mann, meinst du nicht auch?«
Augusta war augenblicklich entrüstet, genauso, wie er es vermutet hatte. Harry beobachtete, wie leidenschaftliche Kampflust in ihren Augen aufzüngelte, als sie sich zu dem Scharmützel aufraffte. Sie hielt den Leuchter vor sich wie ein Schwert. Der Flammenschein tanzte auf ihrem Gesicht, betone ihre hohen Wangenknochen und verlieh ihr einen exotischen Reiz.
Sie sah aus wie eine kleine griechische Göttin, dachte Harry. Vielleicht eine junge Athene, die für den Krieg herausgeputzt war. Dieser Gedanke ließ ihn vor Vorfreude lächeln, und das lodernde Feuer in seinen Lenden, das ihn schon den ganzen Abend über gepeinigt hatte, glühte plötzlich noch heißer.
»Wie kannst du nur etwas so Abscheuliches sagen«, wütete Augusta. »Das ist eine Behauptung von der Sorte, wie sie nur ein extrem arroganter Mann aussprechen kann, ein extrem widerlicher Mann. Du solltest dich schämen, Graystone. Ich hätte eine unparteiischere Logik und mehr Verstand von dir erwartet.
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