Renner & Kersting 01 - Mordsliebe
besaßen hunderte von Aussagen, doch nicht eine heiße Spur. Es musste am frühen Abend geschehen sein, als es dämmerte. Obwohl der größte Teil des Parks durch die vielen Rasenflächen gut überschaubar war und es nur wenige Möglichkeiten gab, sich zu verstecken, hatte niemand etwas Verdächtiges bemerkt. Der Tatort war der einzige Platz, wo die Büsche dicht an dicht standen.
„Los, an die Arbeit. Fass mal zusammen, was wir über das Mädchen wissen.” Kersting konnte am besten nachdenken, wenn ein anderer bekannte Fakten wiederholte. Er glaubte, dass dadurch in seinem Hirn Querverbindungen entstanden, die er vorher übersehen hatte.
„Allzu viel ist es nicht. Sandra Linners, acht Jahre alt, wurde am 15. März im Westpark erdrosselt. Gefunden hat sie Peter Wallner morgens gegen 6.00 Uhr, als er seinen Hund ausführte. Was meinst du, ob es wohl eine Statistik gibt, wie viele Leichen von Hundebesitzern gefunden werden?” Kersting schmunzelte, froh, wieder professionelle Distanz zu verspüren. „Auf jeden Fall haben wir ihn gründlich überprüft, der Mann ist sauber. Tatwaffe war ein bunt gemusterter Seidenschal, wie man ihn in jedem Kaufhaus kaufen kann. Alle Hinweise aus der Bevölkerung, wem der Schal gehören könnte, erwiesen sich als Sackgassen. Wir wissen, dass der Täter einen grauen Wollmantel getragen haben muss und entweder schwarze Wollhandschuhe oder einen schwarzen Wollschal. Entsprechende Fasern fanden sich an der Jacke des Mädchens. An dem Abend war es kalt und Sandra nur mit einem dünnen Anorak bekleidet. Der Mörder konnte ihr leicht den Schal umschlingen. Wer weiß, vielleicht hat er ihr sogar erzählt, er wolle ihr den Schal schenken – wegen der Kälte.” Masowski presste den Mund zusammen, bis die Lippen nur noch einen schmalen Strich bildeten. Auf seiner Stirn glitzerten Schweißtropfen. Nicht nur als Vater ging ihm der Tod der Kinder nahe. Niedergeschlagen fügte er hinzu: „Im näheren Umfeld des Opfers gibt es keinerlei Hinweise, nicht einmal die Andeutung eines Motivs. Aber vermutlich haben wir noch nicht tief genug gegraben. Falls es die Skins nicht waren, muss da irgendwo etwas sein.”
Kersting schielte in seine Kaffeetasse, in der sich noch eine Pfütze lauwarmen Gebräus befand. Angewidert schob er sie beiseite. Eigentlich mochte er gar keinen Kaffee. „Wir werden so schnell wie möglich mit den Eltern des Jungen sprechen müssen. Hoffentlich haben sie sich inzwischen etwas beruhigt. Anschließend sind die Nachbarn dran. Dann sollten wir auch noch Zeugenaufrufe im Lokalfunk veranlassen. Sonst noch etwas? Ach ja, die Schule. Stell doch mal fest, ob der Junge die selbe Schule wie Sandra besuchte. Wenn sie zusammen gespielt haben, haben sie vielleicht auch gemeinsam etwas beobachtet, was niemand sehen sollte.”
Helga Renner ging selten zu Fuß zu ihrer Schule, meistens nur dann, wenn sie die Nachwehen des letzten Abends vertreiben musste, und das geschah nicht allzu oft, wie sie sich bedauernd eingestand. Auch heute fühlte sie sich nur deshalb so zerschlagen, weil sie bis in die frühen Morgenstunden gelesen hatte, eine dumme Liebesgeschichte, bei der sie von Anfang an wusste, wie sie ausgehen würde. Doch ab und zu brauchte sie diese Flucht in eine Traumwelt. Der gestrige Vormittag hatte wieder einmal alle Kräfte aufgezehrt, so dass sie am Nachmittag nur das Notwendigste erledigt und sich mit dem Roman und einer Flasche Riesling Hochgewächs in die Sofaecke gekuschelt hatte. Eigentlich hätte sie vor Energie strotzen müssen, schließlich lagen die Osterferien erst wenige Tage hinter ihr. Doch sie fühlte sich, als hätte es keinen Urlaub gegeben. Schon in der zweiten oder dritten Schulstunde befanden sie und die Kinder sich wieder im alten Trott, was bedeutete, dass sie viel Zeit und Energie brauchte, um ihre Schüler zu überzeugen, das zu tun, was die Lehrerin verlangte.
In der letzten Zeit ertappte sie sich häufiger bei dem Wunsch nach einem wirklich aufregenden Abend mit hervorragendem Essen, heftigem Flirt und anschließendem hemmungslosen Sex. Viel zu lange schon hatte sie auf solche wilden Nächte verzichten müssen. Obwohl sie ihre Unabhängigkeit genoss, spürte sie doch zunehmende Einsamkeit. Ihre Freundinnen lebten in festen Beziehungen und fanden selten Zeit, mit ihr ins Theater oder ins Kino zu gehen. Warum fiel es ihr bloß so schwer, einen interessanten Mann kennen zu lernen? Lag es an der Umgebung, am Alter oder an ihrer eher schüchternen
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