Renner & Kersting 01 - Mordsliebe
begannen, immer hatten die anderen Schuld. Sie war es leid, dem Geschimpfe zu zuhören, auch wenn sie es teilweise verstand, da in ihrer Klasse einige rüde Burschen immer wieder die Schwächeren malträtierten. Trotzdem, jetzt brauchte sie ihre Ruhe. Sie würde sich noch den ganzen Abend über die Leistungen der Kinder ärgern müssen, wenn sie die Aufsätze korrigierte.
Jemand läutete an der Haustür. Die Lehrerin schreckte hoch. Sie war tatsächlich eingeschlafen. Wieder schlug die Klingel an. Mühsam stemmte sie sich aus dem Sessel und schlurfte zur Sprechanlage.
„Polizei!” Was hatte das denn zu bedeuten? Wegen falschen Parkens machten die doch keine Hausbesuche! Als sie ihre Wohnungstür öffnete, erstarrte sie. Sie kannte die beiden, die da vor ihr standen. Die waren häufiger in der Schule gewesen bei Frau Renner, damals, als Sandra ermordet worden war. Fahrig unterbrach sie deren Vorstellungsfloskeln und bat sie herein. Kersting und Masowski setzten sich und beobachteten Frau Stellmann, die nervös ihre Hände knetete. So wie sie vor ihnen saß, wirkte sie alt und erschöpft, ohne einen Funken Energie, als könnte ein Windhauch sie umpusten. Das halblange graue Haar, das aussah, als hätte die Trägerin es mit einer Schere selbst gestutzt, die Tränensäcke unter den müden Augen und die herabhängenden Mundwinkel gaben dem Gesicht ein trostloses Aussehen. Masowski fragte sich, wann diese Frau wohl das letzte Mal gelacht hatte. Alles an ihr wirkte resigniert, lustlos, gleichgültig.
„Also, was ist los?” Selbst diese Frage wurde ohne sichtbares Zeichen von Interesse gestellt.
„In Ihrer Klasse ist ein Benjamin Fränzke. Was können Sie uns über ihn erzählen?”
„Warum? Hat er etwas angestellt oder ist ihm was passiert? Er fehlte heute in der Schule.”
Ein Tag ohne Benjamin erschien ihr wie eine Erlösung. Er tat, was er wollte, hörte auf niemanden und störte die meiste Zeit den Unterricht und die anderen Kinder. Gestern hatte er einem Erstklässler die Jacke weggenommen, mit der Schere ein paar Löcher hineingeschnitten und die Reste dann in die Toilette gestopft. Sie seufzte, als sie da-ran dachte, dass sie sich darum auch noch würde kümmern müssen. Schließlich verlangte die Mutter des Kleinen Ersatz. Wie konnte man einem Kind auch nur eine so teure Markenjacke anziehen? Und von ihr wurde nun erwartet, dass sie den Fall mit allen Beteiligten klärte, genauer gesagt, dafür sorgte, dass Fränzkes die Jacke bezahlten. Und die hatten kein Geld, jedenfalls nicht für solche Dinge. Wie oft schon hatte sie mit der Mutter gesprochen, und jedes Mal hatte es damit geendet, dass Frau Fränzke in Tränen ausbrach und zugab, dass sie mit ihrem Sohn, einem neunjährigen Jungen, nicht mehr zurechtkam. Die Erziehungsmaßnahmen des Vaters, falls er sich denn mal blicken ließ, beschränkten sich auf handfeste Züchtigungen in unregelmäßigen Abständen. Wenn er verärgert oder betrunken war, oder einfach glaubte, es sei mal wieder nötig, bekam sein Sohn eine ordentliche Tracht Prügel. Damit hatte er dann seinen Pflichten als Erzeuger für die nächste Zeit Genüge getan. Meistens kümmerte sich jedoch der jeweilige Freund der Mutter um Benni, sofern man ein paar Touren mit dem Motorrad denn ›kümmern‹ nennen konnte. Kein Wunder, dass der Junge so verwahrlost war.
„Nun, was ist mit ihm?”
„Er wurde heute Morgen im Westpark gefunden.”
„Sie wären nicht hier, wenn er einfach nur geschwänzt hätte! Er wurde doch nicht etwa auch …?”
„Er wurde erdrosselt, ja.”
„So wie Sandra.”
„Wir sind noch nicht sicher, aber vermutlich schon. Also, was können Sie uns über ihn sagen?”
„Er war ein mittelmäßiger Schüler, im sprachlichen Bereich sehr schwach, die Rechtschreibung hat er nie begriffen. Ach je, tut mir Leid, aber das wollen Sie sicher nicht hören. Er ist … ich meine, er war …”
Er war Vergangenheit. Irgendwer hatte dafür gesorgt. Eine Sekunde lang fühlte sie sich wie erlöst. Nie wieder würde sie sich über ihn ärgern müssen. Dann wich die Erleichterung der Scham. Er war ein Kind gewesen, ein kleiner, unglücklicher Junge, den jemand brutal ermordet hatte. Egal, wie sehr er sie auch genervt hatte, das hatte er nicht verdient! Niemand verdiente so einen frühen und gewalttätigen Tod.
„Nun?” Die beiden Polizisten fragten höflich, aber auch ungeduldig.
„Ja, also …” Sie zögerte , versuchte den Blicken der Beamten zu entkommen. Was sollte
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