Renner & Kersting 01 - Mordsliebe
hatte auch noch keine anderen Themen gegeben als die Vorbereitung von Klassenfesten oder Ausflügen.
„Gut, dass Sie da sind. Was hat der Kommissar erzählt?”
Die Merklin bemühte sich nicht einmal, ihre Neugier zu kaschieren. Nach den Kippen im Aschenbecher zu urteilen, wartete sie schon eine ganze Weile hier. Helga hasste Zigarettenrauch. Schaudernd dachte sie an Veronikas Hefte, die davon durchdrungen waren. Auch jetzt schwebten graue Wölkchen über ihrem Kopf und bildeten bizarre Muster, wenn sie zusammenstießen. Ein Anblick, der Helgas ohnehin schon miese Stimmung noch verschlimmerte.
„Nur die Ruhe, lassen Sie mich erst einmal einen Kaffee bestellen”, war jedoch das Äußerste, was sie an Ablehnung hervorbrachte. Kaum drehte die Kellnerin ihnen den Rücken, begann die Fragerei erneut: „Also, was weiß die Polizei? Haben die schon eine Ahnung, wer der Täter ist?”
„Woher soll ich wissen, was die Polizei weiß? Und überhaupt, was soll die Frage? Weshalb interessiert Sie das?”
Ging es etwa nur darum, die Neugier dieser Frau zu befriedigen? „Sie wollten über einen Elternabend mit mir reden, haben Sie gesagt. Was genau möchten Sie an diesem Abend besprechen?”
„Ja, das ist so … ich glaube, ich muss mich entschuldigen. Der Elternabend war nur ein Vorwand.” Nervös drückte ihr Gegenüber die erst zur Hälfte gerauchte Zigarette aus, wobei Helga bemerkte, dass die frisch lackierten, roten Fingernägel einen starken Kontrast zu den Händen bildeten, die von Gartenarbeit und anderen rauen Tätigkeiten zeugten.
„Eigentlich wollte ich über etwas ganz anderes mit Ihnen sprechen, aber ich habe es wohl verkehrt angefangen.”
Zum ersten Mal erlebte Helga eine unsichere und verlegene Elternvorsitzende, die nicht wusste, was sie sagen wollte.
„Ich glaube, ich muss Ihnen da etwas erklären.” Pause.
„Was erklären?”
„Was ich … was wir tun könnten.”
„Inwiefern?”, fragte Helga ungeduldig.
„Ich meine Folgendes …” Umständlich zündete die Merklin sich die nächste Zigarette an, inhalierte tief und genießerisch, bevor sie endlich mit ihrer Erklärung begann: „Ich habe mir überlegt, dass wir beide, wenn wir uns gründlich umhören, mehr herausfinden könnten als die Polizei. Moment …” Mit einer energischen Handbewegung wischte sie den Rauch beiseite, als sie merkte, dass Helga sie unterbrechen wollte. „Lassen Sie mich ausreden. Sehen Sie, ich bin in diesem Viertel aufgewachsen. Meine Eltern besitzen immer noch das Mehrfamilienhaus in der Fleyerstraße, in dem ich groß geworden bin. Sie können sich vielleicht vorstellen, welche Probleme ich hatte, als mein Mann plötzlich ein eigenes Häuschen wünschte und ich nicht aus der Innenstadt wegziehen wollte.” In der Erinnerung daran, stieß sie einen glucksenden Laut aus, halb Kichern, halb Seufzer, und fuhr dann fort: „Glücklicherweise ergab sich die Möglichkeit, in dem Neubaugebiet am Westpark bauen zu können. – Jedenfalls … was ich meine, ist … ich kenne das Viertel und seine Bewohner. Ich bin in der Kirchengemeinde engagiert, organisiere alle möglichen Veranstaltungen, und viele Menschen, die mich kennen, kommen mit ihren Problemen zu mir. Ich habe schon im Kiosk und im Blumenladen ausgeholfen. Ich weiß, wie die Leute hier leben und was sie denken. Und jetzt kann ich dieses Wissen endlich sinnvoll anwenden. Sie andererseits kennen die Kinder und die Kolleginnen, also das gesamte schulische Umfeld. Wenn wir alles, was wir beobachten, zusammenwerfen und vergleichen, müssten wir doch rauskriegen, wer der Mörder ist. Nun, was meinen Sie?” Herausfordernd blickte sie die Lehrerin an, die im wahrsten Sinne des Wortes sprachlos war. „Überlegen Sie nur einmal, wie viel Ihnen die Kinder in der Schule erzählen, wenn Sie richtig fragen”, fügte sie dann noch hinzu.
Diese Zumutung vertrieb Helgas Schüchternheit: „So etwas habe ich nie getan und werde es auch nicht tun. Ich horche meine Schüler nicht aus.”
„Du meine Güte! Das ist zuviel der Ehrbarkeit!” Frau Merklin grinste spöttisch. Ernster fuhr sie dann fort. „Betrachten Sie das Problem einfach von der pädagogischen Seite. Das Wissen um die familiären Hintergründe ist wichtig, um einen Schüler gerecht zu behandeln und zu beurteilen. Und wenn wir dadurch auch noch den Kerl finden, der zwei Kinder kaltblütig …” Sie stockte, rauchte in kurzen, hastigen Zügen.
Ein kalter Schauder rann über Helgas Rücken. Bilder, die
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