Renner & Kersting 01 - Mordsliebe
sie erzählen? Dass er unverschämt, vorlaut und frech gewesen war? Andere Kinder wahllos verprügelte und ihnen alles, was er haben wollte, aus den Taschen klaute? Dass er die Kleinsten erpresste, ihm Geld mitzubringen? Mein Gott, wie oft hatte mittags das Telefon geklingelt, weil wieder eine Mutter massive Klagen gegen ihn vorzubringen hatte. Die Geschädigten betrachteten es als selbstverständlich, dass sie sich der Sache annehmen und alles wieder in Ordnung bringen würde. Verdammt, von so einem Pack durfte man nichts erwarten, weder Verständnis für die Mitschüler und deren Eltern noch eine finanzielle Entschädigung. Und sie konnte weder den Jungen noch seine Familie ändern. Ihr blieb nur die Hoffnung, die Grundschuljahre mit Benjamin so gut wie möglich zu überstehen. Irgendwie erschien es ihr jedoch unpassend das alles zu erzählen.
„Wann ist es denn passiert?”
„Gestern, am späten Abend. Spielte er häufig im Westpark?”
„Na ja, so genau kann ich Ihnen das auch nicht sagen. Ich habe ihn des Öfteren dort gesehen, aber ob er regelmäßig da war …?” Sie zuckte die Schultern.
„Wie war er denn so im Unterricht? Ich meine jetzt nicht seine Leistungen.”
Ulrike lächelte schief. Sie wusste genau, was der Polizist meinte. „Er war ein einsames Kind, immer auf der Suche nach Zuwendung. Dafür stahl er auch mal und machte dann Geschenke an die Mitschüler.” Wieder blieb es eine Weile still.
„Und die? Was hielten seine Mitschüler von ihm und seinen Geschenken?” Kersting zeigte erste Anzeichen einer Verärgerung. Musste er dieser Frau denn jede Äußerung erst mühevoll entlocken? Als Lehrerin hatte sie ihn doch gut gekannt und sollte etwas mehr über ihn wissen.
„Hatte er denn keine Freunde in der Klasse? Er muss doch mit anderen Kindern zusammen gewesen sein?”
„Tja, Freunde …” Die Stellmann schaute zum Fenster. „Es gab Kinder, die manchmal mit ihm spielten, aber das änderte sich oft.”
„Jetzt hören Sie mal, ich verstehe ja, dass Sie geschockt sind, aber darauf können wir leider nicht soviel Rücksicht nehmen, wie Sie es sich vielleicht wünschen. Immerhin wurde Benjamin brutal ermordet, und wir müssen den Mörder schnellstens finden. Also sagen Sie uns, was Sie wissen, und wir verschwinden wieder. Was für ein Typ Junge war er, mit wem spielte er, wo trieb er sich herum? Kannte er Sandra? Hatten die beiden häufiger Kontakt?” Masowski hatte die Geduld verloren und sprach lauter als gewöhnlich. „Sagen Sie uns einen Namen, das würde schon weiterhelfen.”
„Also, er hing häufig mit René Biermann zusammen. In der letzten Zeit verstanden sich die beiden ziemlich gut, was sich unter anderem darin äußerte, dass sie gemeinsam den Unterricht schwänzten. Wenn jemand weiß, wo Benjamin sich nachmittags aufhielt, dann René.”
„Gut! Was ist mit Sandra? Kannten die zwei sich?”
„Ausgeschlossen! Mit Mädchen gab er sich nicht ab. Außerdem ging Sandra doch erst in die zweite Klasse. Nein, ich kann mir nicht vorstellen, dass die beiden miteinander spielten. Ich habe sie auch nie zusammen gesehen. Vielleicht kannten sie sich flüchtig. Sie wohnten ja in derselben Straße, allerdings an den entgegengesetzten Enden. Befreundet waren sie sicher nicht.”
„Können Sie sich einen Grund denken, warum jemand die beiden Kinder getötet hat, irgendeinen Grund?”
„Keinen!” Sie antwortete schnell, zu schnell. Sie spürte es, kaum dass die Antwort heraus war. Verlegen fuhr sie mit den Fingern durch die Haare. „Ich kann mir keinen Grund vorstellen, warum jemand Sandra töten sollte.” Wieder schaute sie auf ihre Hände, die noch immer in Bewegung waren. „Benjamin – es gab nur selten einen eindeutigen Beweis, aber ich bin sicher, dass er gestohlen hat. Immer dann, wenn einem Kind plötzlich etwas fehlte, hatte seine Mutter ihm angeblich genau dieses Teil am Tage vorher gekauft. Und ich glaube, er stahl nicht nur in der Schule. Ungefähr zu Beginn des Schuljahres gab es eine hässliche Szene. Benjamin war nachmittags bei Jörg Müller gewesen, und nach dem Besuch vermisste Herr Müller sein Portemonnaie. Angeblich hatte es in der Innentasche des Mantels gesteckt, der an der Garderobe im Flur hing. Der Mann hat damals ’nen Riesenzirkus veranstaltet, sowohl bei Fränzkes als auch in der Schule. Er wollte Anzeige bei der Polizei erstatten. Keine Ahnung, ob er es schließlich getan hat. Gehört habe ich nichts mehr.”
„Müller?”
„Mörtel-Müller.
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