Renner & Kersting 01 - Mordsliebe
und danach fragte, bevor er eine Beziehung anknüpfte? Helga gefiel seine Rücksichtnahme. Oder war es Vorsicht? Egal, Männer mit dieser Eigenschaft gab es jedenfalls nicht viele. Sie registrierte, wie ihr Herz schneller zu schlagen begann.
„Nun muss ich aber los, zurück in die Tretmühle. Mal hören, was die Kollegen herausgefunden haben, und dann Frau Stellmann befragen. Hoffentlich weiß sie etwas, was uns auf eine Spur bringt.” Er verabschiedete sich. „Danke für Ihre Begleitung. Vielleicht haben Sie ja mal wieder Lust …”
„Sie wissen doch, für gutes Essen bin ich immer zu haben. Also, bis dann!”
Beschwingt ging sie den Stadtgarten hinunter, verweilte einen Moment am Teich, wo sie den Enten zuschaute und die laue Luft genoss. Sie liebte diese Jahreszeit, in der die Natur wieder erwachte und zarte Knospen sich zu farbenprächtigen Blüten entfalteten. In der Fußgängerzone musterte sie aufmerksam die Schaufenster mit der neuen Frühjahrsmode. Trotz vieler Taubenschwärme und einiger neuer Cafés vermisste Helga jedoch jenes großstädtische Flair, das sie so liebte. Heute störte sie dieser Mangel allerdings nicht, ihre Gedanken weilten bei Kersting. Seine Ruhe und sein fröhliches Lachen hatten sie für ihn eingenommen. Sollte er nochmals in der Schule auftauchen, würde es sie nicht stören. Ganz im Gegenteil!
4
Schuldig! Wie schwere Tropfen fielen die Worte in den schwarzen Schlund ihrer Einsamkeit. Schuldig am Tod eines Unschuldigen. Verzweifelt wühlte sie sich tiefer in das Kissen, doch nichts konnte die Bilder vertreiben, die immer wieder in ihrem Kopf entstanden. Der geliebte Mensch starr und reglos im kalten Licht der Leuchtstoffröhren, das Blut noch im Gesicht. Manchmal, wenn sie sich kräftig genug fühlte, sagte sie sich, dass sie nichts hätte verhindern können, dass es nichts gab, das sie hätte tun können, gar nichts und doch … Wieder hörte sie die Stimme, diese schrille, nie enden wollende Stimme: Du bist Schuld, du ganz allein!
Ulrike Stellmann fühlte sich müde und zerschlagen, als sie ihre Wohnungstür aufschloss. Nach mehr als fünfundzwanzig Jahren im Schuldienst hatte sie einfach nicht mehr die Nerven, die Frechheiten und Unverschämtheiten ihrer Schüler entsprechend zu bestrafen oder zu ignorieren. Selbst in der Grundschule kannten die Kinder ihre angeblichen Rechte besser als ihre Pflichten.
Auch heute hatte ein Achtjähriger sie wieder einmal „alte Schlampe” genannt und dann noch gefragt: „Heh, was wollen Sie denn? Schlagen dürfen Se mich nich! Und ’ne Strafarbeit mach ich nich.” Obwohl sie genau wusste, dass diese Ausdrucksweise in seinem Elternhaus an der Tagesordnung war, fühlte sie sich persönlich angegriffen und verletzt. Es fiel ihr immer schwerer, mit solchen Kindern umzugehen. Was nützten alle Vorhaltungen und Verbote, wenn diese Worte außerhalb der Schule zum allgemeinen Sprachgebrauch gehörten! Sie konnte die Ausbreitung der Fäkalsprache ebenso wenig verhindern wie sie eine Flutwelle aufhalten konnte. Wenn sie für sich eine Möglichkeit sähe, den Dienst zu verlassen, hätte sie es längst getan, spätestens damals, als das Schreckliche geschah. Heute bedauerte sie, dass sie nicht den Mut gehabt hatte, ein völlig neues Leben zu beginnen. Es wäre eine gute Gelegenheit gewesen, doch – obwohl sie den Kollegen und sich selbst immer wieder versichert hatte, eine Aufgabe des Berufes würden alle Beteiligten als Eingeständnis von Schuld werten – war sie in Wirklichkeit zu feige gewesen. Vielleicht hätte es Möglichkeiten für sie gegeben, überlegte sie, wenn sie sich intensiv bemüht hätte. Doch was nützten alle Wenn und Aber. Die Zeit ließ sich nicht zurückdrehen, und das war gut so. Sie hatte die Katastrophe tief in der Vergangenheit verstaut, nur ab und zu, wenn sie ihren Gedanken freien Lauf erlaubte, stieg die Erinnerung in ihr auf und raubte ihr die wenigen noch verbliebenen Kräfte. Sie erkannte ihre Situation, aber sie hatte nichts anderes gelernt, und jetzt fühlte sie sich zu alt, um noch einmal von vorn anzufangen. So konnte sie nur versuchen, die Vormittage irgendwie zu überstehen, meistens mehr schlecht als recht.
Aufstöhnend sackte sie in einen Sessel. Selbst zum Kaffeekochen fühlte sie sich zu müde. Als das Telefon schrillte, ließ sie es klingeln. Vermutlich Eltern, die sich wieder einmal über das Verhalten fremder Kinder beschweren wollten. Es waren nie die eigenen Kinder, die den Streit
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