Renner & Kersting 01 - Mordsliebe
schnellstens nach Hause! Ich habe die Kinder bei einer Nachbarin abgeladen. Nach dem was passiert ist, lasse ich Veronika und Franziska nicht mehr allein hinaus. Also, mach’s gut! Tschüss!” Mit einem kurzen Winken verschwand Ali in Richtung Garderobe. Die restliche Zigarette verglimmte im Ascher. Angeekelt drückte die Lehrerin sie mit spitzen Fingern aus. Als sie aufblickte, war ihre neue Partnerin bereits verschwunden. Nachdenklich und leicht amüsiert, trank sie den inzwischen lauwarm gewordenen Kaffee.
6
Cora Linners beschleunigte ihre Schritte. Die Begegnung mit der Renner ärgerte sie. Die Lehrerin hatte etwas an sich, das in ihr regelmäßig Aggressionen weckte. Vielleicht lag es daran, dass sie ganz und gar dem Klischee entsprach: unverheiratet, kaum geschminkt und so zeitlos gekleidet, dass sie stets bieder und unmodern wirkte, offensichtlich keine anderen Interessen als Schule hatte und in ihren Ansichten erzkonservativ war. Mit Schaudern dachte Cora an die Elternsprechtage, die sie nur besucht hatte, um Interesse zu bekunden. Was hatte sie sich nicht alles anhören müssen! Eine Frau, die keine eigenen Kinder besaß, wollte ihr erklären, wie man ein Kind erzieht. Gut, die Renner hatte studiert, aber ein Kind tagtäglich um sich zu haben und zu versorgen, ist doch etwas ganz anderes. Von der modernen Zeit verstand die Renner soviel wie ein führerscheinloser Achtzigjähriger vom Autofahren. Keine Ahnung vom wirklichen Leben, aber großartig daherreden, das konnte sie. Versuchte, ihr, Cora Linners, weiszumachen, dass Sandra eine konsequente Erziehung und emotionalen Halt brauchte. So ein Quatsch! Natürlich zeigte die Kleine sich oft bockig, aber es war doch völlig normal, dass Kinder versuchten, ihren eigenen Willen durchzusetzen. Und dass Sandra keine Lust zur Arbeit hatte und sich vor Aufgaben drückte, war auch kein Grund, der Mutter Vorhaltungen zu machen. Cora hatte sich früher in der Schule nicht anders benommen.
Während sie an der Kirche kurz anhielt, um die Frankfurter Straße zu überqueren, sah sie aus dem Augenwinkel die Renner Café Tigges betreten. Natürlich, wer, außer Lehrern, konnte sich das nachmittags leisten? Die brauchten sich weder um den Arbeitsplatz noch um das nächste Gehalt zu sorgen. Mit einem lautlosen Seufzer wischte Cora die unsinnigen Gedanken beiseite. Sie sollte sich besser auf das konzentrieren, was vor ihr lag. Zwischen zwei Bussen hindurch passierte sie eilig die Fahrbahn. Nach wenigen Schritten ging rechts die Böhmerstraße ab. Vor dem Aldi blieb sie stehen, warf einen Blick in die Runde, um dann, als sie keinen Bekannten sah, schnell in die Seitenstraße zu verschwinden. Sie beschleunigte ihre Schritte, überquerte die Hochstraße und hielt sich dicht an der Häuserwand.
Ihr Leben bewegte sich im Kreis zwischen bemühter Normalität, Ablenkung und Trauer. Manchmal, so wie heute Morgen, überfiel sie die Einsamkeit. Sie hatte in der Küche gestanden, die Kaffeekanne in der Hand und auf den leeren Platz gestarrt. Minutenlang. Nie wieder würde sie Sandras Genörgel hören, weil ihr die Marmelade nicht schmeckte oder sie eine bestimmte Wurstsorte vermisste. Nie wieder würden sie gemeinsam vor dem Fernseher lachen oder auf dem Sofa balgen. Sie wusste, dass die Nachbarn über sie redeten, weil sie nicht in deren Vorstellung einer trauernden Mutter passte. Aber Sandra hatte ihr gehört, und die Trauer gehörte deshalb auch ihr, ihr ganz allein. Sie wollte keinen Trost.
Sie schrak hoch. Beinahe wäre sie zu weit gelaufen. Wieder ein sichernder Blick nach allen Seiten, bevor sie in einem der Mehrfamilienhäuser verschwand. Über ausgetretene Treppenstufen stieg sie in den obersten Stock, wo sich eine neu renovierte Wohnung befand, zu der sie einen eigenen Schlüssel besaß. Es war ein helles, großzügig eingerichtetes Atelier. Durch das Dachfenster fiel Sonnenlicht auf eine riesige Spielwiese aus bunten Polstern und weichen Kissen. An der Schmalseite des Raumes saß ein schlanker Mann in den Dreißigern und las die Westfalenpost, ein Becherglas mit goldgelber Flüssigkeit in der Hand. Bei ihrem Eintritt sprang er auf.
„Cora! Liebling! Du hast mich lange warten lassen. Ich wollte schon zu dir kommen.”
Achtlos warf sie ihren Mantel über eine Sessellehne. „Du weißt, dass das nicht geht. Die Nachbarn und die Polizei …”
„Das spielt doch jetzt keine Rolle mehr.”
Mit einer Hand hielt er sie fest, die Finger der anderen öffneten die Bluse und
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