Renner & Kersting 01 - Mordsliebe
sie zu vergessen wünschte, drängten sich vor ihren Augen. Da war der Mann, der die Tochter seiner Freundin vergewaltigt hatte, noch bevor sie in die Schule kam, und der noch immer frei herumlief; da gab es den Vater, der seinen sechsjährigen Sohn schon zweimal krankenhausreif geprügelt hatte, was man angeblich nicht beweisen konnte; ihr fiel die ewig betrunkene Mutter ein, der die neunjährige Tochter den Haushalt führte. Oh ja, sie kannte einige Kandidaten, die sie gern in der Rolle des Täters gesehen hätte, damit ihrem Treiben endlich ein Ende bereitet wurde. Unbewusst krauste sie die Stirn. Vielleicht ergab sich hier die Chance, etwas zu bewirken, etwas zu verändern. Wie oft hatte sie wütend und resigniert in der Schule gesessen, weil das Jugendamt keine Möglichkeit zum Eingreifen sah. So viele Eltern betrachteten ihre Kinder als Besitz, mit dem sie nach eigenem Gutdünken umgehen konnten!
„Sie müssen Ihre Schüler ja nicht ausfragen, wenn Sie nicht wollen. Hören Sie nur genau hin, was alles so erzählt wird.” Frau Merklin warf die Zigarettenschachtel, aus der sie sich hatte bedienen wollen, auf den Tisch zurück, stützte die Ellbogen auf und legte das Kinn in die verschränkten Hände. Dann blickte sie Helga durch die runden Gläser ihrer modischen Brille beschwörend an: „Wir würden mehr als die Polizei erfahren. Überlegen Sie doch mal! Der Polizei erzählt man nur solche Dinge, von denen man glaubt, dass sie mit den Morden zu tun haben. Wir dagegen könnten uns ein viel vollständigeres Bild verschaffen. Wir wissen, wie die Leute sich früher verhalten haben und könnten herausfinden, wer oder was sich geändert hat. Ich bin sicher, dass bei dem Täter eine Sicherung durchgebrannt ist. Er hat sich durch die Tat verändert, ist nicht mehr der, der er vorher war. Er hat eine Grenze überschritten und diese Erfahrung wird sein weiteres Leben prägen. Natürlich ist das stark vereinfacht”, endete sie leicht selbstironisch. „Aber vielleicht fällt jemandem etwas auf.”
Konnte Frau Merklin tatsächlich so naiv sein, überlegte Helga misstrauisch. Als Grundschullehrerin hatte sie nur wenig Psychologie gelernt, doch eines wusste sie, und dafür genügte der gesunde Menschenverstand: Wenn es so einfach wäre, einen Mörder zu überführen, hätte die Polizei längst Erfolg gehabt.
„Ich finde, dass es einen Versuch wert ist. Mit Intuition und unserem Gespür für Kinder … glauben Sie nicht?”
Helga hasste es, unter Druck gesetzt zu werden. Sie wusste genau, dass sie dann eher trotzig als vernünftig reagierte. Vernünftig wäre es, die Sache denen zu überlassen, die dafür ausgebildet und bezahlt wurden. Doch dann musste sie wieder an die vielen unangenehmen Erlebnisse in der Schule denken. Hier bot sich eine Möglichkeit, einmal nicht hilflos abzuwarten, sondern aktiv zu werden und etwas zu tun, das abseits der Normalität ihres Alltags lag. Sie schaute aus dem Fenster. Der Blick über den leeren Marktplatz auf die Wand der Johanniskirche deprimierte sie. Ein paar Kinder vollführten waghalsige Sprünge mit ihren Skateboards, von einer Rentnerin beobachtet, die verständnislos den Kopf schüttelte. Anscheinend wurde es ihnen jedoch bald langweilig, denn sie klemmten ihre Bretter unter den Arm und verschwanden Richtung Kino. Helga gab sich einen Ruck.
„Also gut. Ich werde Augen und Ohren offen halten.” Ob sie aktiv eingreifen würde, wollte sie jetzt noch nicht entscheiden.
„Sehr schön. Da wir nun Verbündete sind, sollten wir auch Du sagen … Hallo! Bringen Sie uns zwei Cognac! Einverstanden?”
Helga musste über Frau Merklins Eifer lachen: „Mit dem Du oder mit dem Cognac?”
„Was denken Sie? Also, ich heiße Anne-Liese. Mit Bindestrich wohlgemerkt. Wer mich nicht mag, nennt mich Anne, die anderen sagen Ali.”
Zu dieser energischen Frau passte Ali wirklich besser als Anne, dachte Helga, der sofort Blytons ›sanfte Anne‹ einfiel. Ali besaß nichts Sanftes. Sie war beunruhigend zielstrebig.
„Helga.”
„Also, dann auf gute Zusammenarbeit.”
„Zum Wohl!”
„Helga und Ali … nicht schlecht.” Ali Merklin schmunzelte.
Jetzt, wo ihre gemeinsame Detektivarbeit beschlossene Sache war, fühlte sich Helga erleichtert und unternehmungslustig. „Nun denn, wie sieht dein Plan aus?”
„Zunächst beobachten und zuhören. Wenn du glaubst, etwas Interessantes entdeckt zu haben, ruf an, sonst treffen wir uns in drei Tagen wieder hier. Und jetzt muss ich
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