Renner & Kersting 01 - Mordsliebe
Lehrerin in Wirklichkeit gar nicht so selbstbewusst und couragiert war wie sie in der Schule auftrat. Und da sie, Ali, kontaktfreudig und offen für ihre Mitmenschen war, fiel es ihr schwer, Verständnis für die Hemmungen anderer aufzubringen.
„Dass sie sich mehr um Sandra kümmern würde natürlich.”
„Du meinst, sie hat ihre Tochter vernachlässigt?”
„Nun … in gewisser Weise schon, sie erzählte zwar bei jedem Treffen, was sie alles mit dem Kind unternahm, hatte aber keine Ahnung von Sandras Freundinnen oder schulischen Leistungen. Sie hat zum Beispiel nie mit Sandra geübt oder deren Hausaufgaben kontrolliert.”
„Es könnte also gut sein, dass sie andere Dinge im Kopf hatte, die ihr wichtiger waren. Und dass Sandra dabei im Wege war.”
„Das glaube ich nicht, obwohl … möglich wäre es schon . Nur würde doch keine Mutter ihr Kind eines Mannes wegen umbringen, oder?” Kaum hatte sie die Frage im Brustton innerster Überzeugung herausgebracht, da fiel ihr ein, dass es Frauen gab, die sexuellen Missbrauch ihrer Kinder duldeten, weil sie den Mann angeblich liebten. Erschrocken hielt die Lehrerin die Luft an.
„Okay, okay, vielleicht hat die Linners mit der ganzen Sache nichts zu tun, aber warum hat sie dann gelogen? Das ist doch die Frage! Warum erzählt sie allen, sie hätte keinen Freund? Die Lüge ist doch völlig unnötig, insbesondere, da ihre Tochter körperlich unversehrt war.”
Abgesehen davon, dass jemand sie erdrosselt hatte, fügte Helga im Stillen hinzu.
„Es gibt keinen Grund, eine Freundschaft geheim zu halten, es sei denn”, platzte Ali plötzlich heraus, „der Mann ist verheiratet.”
„Das wird es sein. Natürlich, du hast völlig Recht. Da siehst du, wie einfach manche Rätsel zu lösen sind!”
„Oder der Mann steckt doch dahinter, und sie weiß oder befürchtet es!” Alis Stimme klang triumphierend.
„Deine Phantasie geht mit dir durch. Wie sicher bist du überhaupt, dass sie einen Freund hat?”
„Ziemlich. Ein Nachbar hat den Typ gesehen.”
„Und wenn er der Bruder war?”
„Quatsch. Alle Verwandten und Bekannten wurden von der Polizei vernommen. Stand jedenfalls in der Zeitung, sogar mit den entsprechenden Bildern. Wenn sie einen Bruder hätte, hätten die das bestimmt gebracht. Der hätte doch auch zu den Verdächtigen gehört, oder etwa nicht?”
„Hm, und wieso weiß die Polizei nichts von dem Mann, wenn ihn sogar die Nachbarn kennen?”
„Ein Nachbar! Und das ist ein sturer alter Knilch. Vielleicht hat ihm die Nase eines Polizisten nicht gefallen, vielleicht haben sie nicht richtig gefragt … egal, Hauptsache, wir wissen Bescheid. Du musst rausfinden, wer der Kerl ist und warum sie gelogen hat.”
„Ich? Wie denn?”
„Menschenskind, du musst dich mit ihr unterhalten! Denk dir eine hübsche Ausrede aus.”
„Ich weiß keine.”
„Stell dich nicht so an! Überleg einfach, welche Typen an deiner Tür klingeln und was sie von dir wollen.”
„Bei mir klingelt niemand, den ich nicht eingeladen habe.”
„Nun sei mal kreativ. Irgendetwas wird dir doch wohl einfallen!” Ali klang leicht genervt, wie Helga unschwer feststellte.
„Hm, ich werde drüber nachdenken.”
„Na schön! Übrigens – als Zeitschriftenverkäuferin bin ich schon aufgetreten. Such dir also was anderes aus!”
„Das wäre für mich auch schwierig. Schließlich wissen viele Leute, dass ich Lehrerin bin. Stell dir bloß mal vor, Eltern würden mich beobachten und mich dann wegen Schwarzarbeit beim Schulamt melden. Das fehlte mir noch!”
„Das ist doch keine Schwarzarbeit, was wir machen, sondern eine ehrenamtliche Tätigkeit, im wahrsten Sinne des Wortes karitativ.” Ali kicherte, und nach überraschtem Luftholen kicherte Helga auch.
„Also sieh zu, dass du etwas rauskriegst”, schloss Ali abrupt. „Bis dann!”
Helga stöhnte. Für die Partnerin schien immer alles so leicht zu sein. Sie, Helga, konnte nicht einfach mit einer Ausrede in fremde Wohnungen eindringen und deren Bewohner ausfragen. Sie war nicht so kommunikationsfreudig wie Ali. Die regelmäßigen Stammtischtreffen mit den Eltern ihrer Schüler erwiesen sich stets als Martyrium, besonders wenn Ali nicht kam, die mit ihrem extrovertierten Wesen die ganze Runde unterhielt. Es lag jedoch nicht nur an ihrer Schüchternheit, dass sie sich so unwohl fühlte, ihr fiel auch keine glaubwürdige Ausrede ein, um Frau Linners zu besuchen.
Ihr Beileid hatte sie schon vor drei Wochen auf der
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