Renner & Kersting 01 - Mordsliebe
Beerdigung ausgesprochen. Es gab nichts, was sie der Mutter noch sagen konnte. Sandra war Geschichte geworden, und doch sprachen die Kinder immer noch von ihr, fragten, wann sie zurückkäme, hatten nicht begriffen, was Tod bedeutet. Ihr Zeichenblock, der Farbkasten, Hefte und Bücher lagen noch unter ihrem Tisch, als wäre ihre Abwesenheit nur vorübergehend. Natürlich, das war’s! Sie könnte Sandras Sachen zurückbringen und bei der Gelegenheit ins Gespräch kommen. Aber wann? Wann war die Wahrscheinlichkeit am größten, etwas über diesen geheimnisvollen Freund herauszufinden, ihn vielleicht sogar anzutreffen?
Am späten Freitagnachmittag lungerte Helga Renner auf dem Gehweg vor dem Haus der Linners herum. Sie kam sich vor wie in einem schlechten Film, als sie dort auf und ab ging, immer mit einem Auge an der Haustür hängend. Auf der Straße spielten Kinder, die sie misstrauisch beäugten. Zwei kleine Mädchen hockten auf den Stufen vor der geöffneten Haustür und lackierten sich die Fingernägel. Ihre Puppen schauten zu. Allzu lange konnte Helga sich hier nicht aufhalten. „Du bist doch Lehrerin, oder?”, fragte ein Mädchen und blickte ihre Freundin triumphierend an, als Helga bejahte. Eine Gelegenheit sehen und sie nicht nutzen ist töricht, dachte sie und wandte sich den Mädchen zu. „Wohnt ihr hier?” Einhelliges Nicken. „Habt ihr Benjamin mal hier gesehen?”
„Benjamin aus der 3b?”
„Ja, spielte der auch hier?”
„Den hat Rudi rausgeworfen. Der hat vielleicht geschimpft, der Rudi! Und dann ist Benni nicht mehr gekommen.”
„Der schimpft doch dauernd. Wenn nur ein Fahrrad im Flur steht, brüllt der schon los. Mein Papa sagt immer, Rudi ist ein alter Wichser”, ergänzte die zweite altklug.
Rudi war wohl der Hausmeister, vermutete Helga. Und wenn der Benni hinausgeworfen hatte, musste der Junge sich auch in diesem, in Sandras Haus herumgetrieben haben. Damit hatte sie ein weiteres Bindeglied zwischen den Kindern gefunden. Gut so. Aber jetzt musste sie entscheiden, ob sie hineingehen oder fortgehen wollte. Noch länger konnte sie nicht hier stehen bleiben.
Ein nachlässig gekleideter, aber gut aussehender Mann drängelte sich zwischen ihr und den Mädchen hindurch ins Haus hinein. Helga beschloss, ihm zu folgen. Vielleicht war das ja der geheimnisvolle Freund. Durch die ungeputzten Fenster fiel trübes Licht und schuf helle Flecken auf den ausgetretenen Treppenstufen. Der Fremde ging an Linners Tür vorbei und weiter die Treppe hinauf. Helga blieb stehen und sah sich um. Die Flurwände hatten im Laufe der Zeit die Farbe verschalten Bieres angenommen, die Läufer waren zerschlissen. Sie hörte oben eine Tür zuschlagen, dann Stille. Von unten drang das Gekicher der beiden Mädchen. Sollte sie oder sollte sie nicht? Noch einmal schaute sie nach allen Seiten, dann, als sie niemanden bemerkte, beugte sie sich vor und legte lauschend das Ohr an die Tür mit der abblätternden Farbe. Nichts zu hören. Mit einem lauten Ruck sprang die Nachbartür auf, und ein Junge wirbelte heraus. „Hallo Frau Renner, wollen Sie zu Sandras Mama?” Helga zuckte zusammen und ließ erschrocken die Mappen fallen. Bevor sie noch antworten konnte, hüpfte der Kleine die Treppe hinunter. Sie spürte ihr Herz klopfen, und auf ihrer Stirn sammelte sich kalter Schweiß. Detektivarbeit war ganz und gar nicht ihr Ding. Warum, um Himmels Willen, hatte sie sich überreden lassen? Langsam, eine nach der anderen, hob sie die Mappen wieder auf. Am liebsten wäre sie gegangen. Der Schreck saß tief. Doch bevor der Mut sie ganz verließ, presste sie ihren Finger auf die Klingel. Während sie wartete, dachte sie darüber nach, warum sie der Linners eine so starke Antipathie entgegenbrachte. Die Frau war ihr gegenüber nie respektlos gewesen, es hatte keine Auseinandersetzungen gegeben, im Gegenteil. Sandras Mutter hatte regelmäßig allen Vorschlägen der Lehrerin zugestimmt und versprochen, etwas zu ändern. Nur getan hatte sie es nie. Ihr Kind solle in Freiheit aufwachsen, hatte sie am letzten Elternsprechtag erklärt, und ›Freiheit‹ bedeutete für sie: keinerlei Bestrafung, egal was Sandra anstellte. Dass Kinder Grenzen brauchen, innerhalb derer sie sich sicher fühlen können, wollte sie nicht wahrhaben. Und so lernte Sandra dieses Gefühl der Geborgenheit nie kennen. Sie besaß keine Achtung vor dem Nächsten und seinem Besitz. Was sie haben wollte, nahm sie sich. Helga war schon seit längerer Zeit
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