Renner & Kersting 01 - Mordsliebe
überzeugt, dass die ›Erziehung in Freiheit‹ für die Linners eine bequeme Ausrede war für ihre Gleichgültigkeit. Ein Kind zu erziehen, ist mit Anstrengung verbunden. Es kostet Energie, Verbote auszusprechen und auf deren Einhaltung zu drängen. Wie viel einfacher ist es dagegen, nichts zu verbieten, oder auf Konsequenzen zu verzichten.
Eine stark geschminkte und sehr modisch gekleidete Frau Linners öffnete.
„Ach Sie sind’s. Was wollen Sie denn?”
„Ich bringe die Sachen Ihrer Tochter. Sie lagen noch in der Schule.”
„Geben Sie her.” Es schien, als sollte die Tür gleich wieder geschlossen werden. Krampfhaft überlegte Helga, was sie denn noch sagen könnte, um tatsächlich hereingebeten zu werden.
„Das Ganze muss doch furchtbar für Sie sein. Und jetzt Benjamin … Wenn ich Ihnen in irgendeiner Weise behilflich sein kann, sagen Sie es mir bitte.”
„Das ist nett von Ihnen, aber nein, danke. Ich komm schon zurecht.” Frau Linners schien nervös zu sein. Demonstrativ blickte sie auf ihre Armbanduhr. Ob sie Besuch erwartete? Was konnte man um Himmels willen noch sagen? Helga überlegte angestrengt. Ali würde sie auslachen, wenn sie mit leeren Händen ankäme.
„Hören Sie …”
„Was denn noch?”
„Ich meine nur, also wenn …”
„Ja?”
„Es tut mir so Leid. Hat die Polizei schon etwas herausgefunden?”
„Nein. Auf Wiedersehen!”
Sie würde nicht hereingebeten werden, ganz eindeutig. Es gab nichts, was noch gesagt werden konnte. Da polterten Schritte die Treppe herauf. Wollte vielleicht jemand zu Frau Linners? Diese eine Minute musste Helga noch durchhalten. Sie kam sich lächerlich vor, als sie sich sagen hörte: „Scheußliches Wetter heute, nicht?” Es war zwar bewölkt, aber trocken, ein untypischer Apriltag und ganz sicher nicht scheußlich. Weil Helga sich der Treppe zugewandt hatte, registrierte sie den verärgerten Blick der Linners nur aus den Augenwinkeln. Da erschien auch schon der Verursacher des Lärms, ein großer, breiter, ein wenig grobschlächtiger junger Mann, der sich mit einem kurzen „Hallo” an ihr vorbei und in die Wohnung drängte, deren Tür kommentarlos zugeschlagen wurde.
Nein, etwas Neues hatte Helga bei diesem Besuch nicht erfahren, aber immerhin konnte sie bestätigen, dass da ein Mann existierte, der keinen sympathischen Eindruck machte. Vor allem sah er nicht so aus, als sei er mit einer Frau verheiratet, vor der er ein Verhältnis verbergen müsste. Ganz im Gegenteil. Seine Gesichtszüge, soweit sie das in dem halbdunklen Flur hatte erkennen können, zeugten von Brutalität und Kälte.
11
„Mensch, guck mal, was ich gefunden habe!”
Es war mehr als eine Woche später und große Pause. Helga hatte auf zwanzig Minuten Ruhe gehofft. Aber jetzt kam die Konrektorin auf sie zugestürzt. „Nun sieh dir das bloß mal an!” In der einen Hand hielt sie ein neues, noch verpacktes Computerspiel, in der anderen einen Stapel CDs und einige Geldscheine. Während Helga sie noch verständnislos anstarrte, redete Elli Goppel schon weiter: „Ich musste ganz plötzlich mit meiner Truppe den Klassenraum wechseln, tut mir übrigens Leid wegen des Lärms im Treppenhaus, aber das ließ sich nun mal nicht vermeiden.”
„Ich hab’s gehört. Aber warum das Ganze? Wegen der kaputten Steckdose? Meine Verlängerungsschnur kannst du vorläufig behalten.”
Helga hatte sie vor einigen Monaten gekauft und sorgfältig mit ihrem Namen versehen. Trotzdem achtete die Lehrerin streng darauf, wem sie sie auslieh. Irgendwann einmal hatte auch die Schule diverse Kabel besessen, doch nahm ihre Anzahl im Laufe der Zeit rapide ab, und für neue gab es kein Geld.
„Quatsch! Einem Kind ist Verputz auf den Kopf gefallen, zum Glück war es nur geschockt, nicht verletzt.”
„Was?”
Elli holte tief Luft, dann legte sie los: „Also, du weißt doch, mein Klassenraum oben unterm Dach ist feucht. Jedes Jahr aufs Neue stellen Raesfeld und ich einen Antrag, dass der Raum saniert werden muss, aber solange nur ab und zu mal ein bisschen Verputz herunterfiel, zumeist in den Ferien und ohne jemanden zu treffen, interessierte das niemanden.” Böse schaute sie Helga an, die aus Erfahrung wusste, dass der Blick nicht ihr galt, sondern der Verwaltung, die nie Geld für die wirklich wichtigen Dinge hatte. „Was nutzen uns alle Versprechungen einer künftigen Sanierung, wenn den Kindern zwischenzeitlich die Decke auf den Kopf fällt! Eigentlich bin ich ja froh, dass das
Weitere Kostenlose Bücher