Renner & Kersting 01 - Mordsliebe
›Käal‹ war, mit dem Frau Linners befreundet sein sollte.
Als sie den dunklen, mit Zeitungen und Zeitschriften vollgestopften Kellerraum verließ und in das warme Licht der Frühlingssonne hinaustrat, erschien ihr jeder Gedanke an Gewalt unfassbar. Die Schulkinder lärmten und lachten auf dem Gehsteig, als ob nie etwas geschehen wäre. Ali beneidete sie um ihre Unbefangenheit. Für einen Moment blieb sie stehen, um die frische Frühlingsbrise zu genießen – und wurde von einer schlanken, jungen Frau im langen Mantel überholt. Das war doch … natürlich … wenn man vom Teufel spricht … dachte Ali amüsiert und setzte sich in Bewegung. Zielstrebig und ohne einen Blick zur Seite zu werfen eilte die Linners Richtung Innenstadt. Ali folgte ihr unbemerkt. Es war nicht schwierig, eher langweilig, denn ihr Zielobjekt drehte sich nicht ein einziges Mal um. Von hinten konnte Ali nicht erkennen, ob Oma Großes Bemerkung über das Make-up stimmte. Kurz vor einer größeren Kreuzung überlegte Ali, ob sie hinter der Linners bleiben oder auf die nächste Grünphase warten sollte. Ein Blick auf die Uhr ließ sie jedoch mit schlechtem Gewissen zusammenzucken. Die Gespräche hatten viel länger gedauert als ursprünglich geplant. Und dann noch die Beschattung. Sicher warteten Veronika und Franziska schon daheim. Was tun? Sie konnte ihre Kinder nicht vor der verschlossenen Haustür sitzen lassen. Unmöglich! Schweren Herzens gab Ali ihr Vorhaben auf und drehte um. Sie tröstete sich mit dem Gedanken, dass die Linners vermutlich nur einkaufen ging und sie, Ali, nichts versäumte.
Obwohl häufig unterwegs, war sie doch stolz darauf, dass ihre Familie nicht zu kurz kam. Und so sollte es auch bleiben.
Ihre Töchter kamen ihr bereits laut schimpfend entgegen.
„Wo warst du so lange? Wir haben schon gewartet!”
„Ich hab Hunger!”
„Was haltet ihr von Spaghetti mit Tomatensauce?”
Beide Kinder stöhnten: „Schon wieder? Das hatten wir doch gerade.” Anne-Liese dachte nach. Stimmt, als sie letzte Woche bei den Vorbereitungen für das Gemeindefest half, hatte sie auch wenig Zeit gehabt. Nun, dann würde es ausnahmsweise einmal Pommes frites und Currywurst vom Imbiss geben. Hauptsache, die zwei waren zufrieden. Aber heute klappte es ganz und gar nicht mit der Zufriedenheit.
„Kannst du nicht mal wieder richtig kochen? Hähnchen mit Broccoli?” bettelte Veronika. Da hatte sie es! Aber es gab nun einmal Dinge, die wichtiger waren. Auch wenn sie das den Kindern jetzt schlecht erklären konnte.
Lustlos kauten alle drei auf ihrer Currywurst herum. Veronika schimpfte auf Frau Renner und die vielen Hausaufgaben, Franziska wollte unbedingt das neue Skateboard ausprobieren und maulte, weil ihre Mutter ihr strikt verbot, allein auf die Straße zu gehen. Nachdem Ali die Kinder zwecks Erledigung der Schulaufgaben in ihre Zimmer geschickt und die Reste der Mahlzeit entsorgt hatte, fiel ihr Blick auf die neu erworbenen Zeitschriften. Lesen würde sie das Zeug nicht. Also zum Altpapier damit. Sie bückte sich und begann, Zeitungen und Illustrierte zu stapeln und zu verschnüren, als ihr eine grandiose Idee kam. Sie würde den ganzen Kram den Nachbarn der Linners verkaufen und Abonnements anbieten. Eine bessere Ausrede, um mit den Leuten ins Gespräch zu kommen, gab es nicht, und jeder würde verstehen, warum sie nicht so schnell wieder verschwand. Zeitschriftenwerber waren hartnäckig, und das wollte sie auch sein. Sie hoffte nur, dass niemand sie kennen und fragen würde, weshalb sie plötzlich für Illustrierte warb. Und falls doch, musste sie eben ihrem Einfallsreichtum und ihrem Glück vertrauen. Leise vor sich hinkichernd knotete sie das Paket wieder auf.
10
Helga verbrachte den Nachmittag am Schreibtisch. Es fiel ihr schwer, die für Korrekturen notwendige Konzentration aufzubringen. Immer wieder wanderten ihre Gedanken zu Benni und Sandra. Anscheinend ging es dem Täter nicht darum, perverse Triebe zu befriedigen. Oder vielleicht doch? War es möglich, dass er keiner weiteren Handlungen bedurfte? Dass der Tod allein ihm bereits Befriedigung schenkte? Dann würde er weiter morden. War die Hemmschwelle erst einmal überwunden, fiel es von Mal zu Mal leichter. Die Lehrerin streckte die Arme zur Seite, drehte den Kopf hin und her und atmete tief durch. Doch nichts half. Die düsteren Gedanken ließen sich nicht vertreiben. Nachdem sie zum dritten Mal ein richtiges Rechenergebnis als falsch gekennzeichnet hatte,
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