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Renner & Kersting 01 - Mordsliebe

Renner & Kersting 01 - Mordsliebe

Titel: Renner & Kersting 01 - Mordsliebe Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Angelika Schroeder
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doch wohl nicht in das Milieu dieses Lembert begeben wollen? Bei allem Verständnis, aber das ging zu weit.
    „Hör mal Ali, du hast doch nicht vor …”
    Entschieden wurde sie von dieser unterbrochen. „Ich habe über Benjamin nachgedacht. So traurig es für ihn ist, aber … er hat alles überstanden. Er ist jetzt in einer besseren Welt. Doch die anderen … Sag mal, kommen viele eurer Kinder aus solchen Verhältnissen?”
    „Die Fränzke ist natürlich ein Extremfall, aber … doch ja, es gibt einige Familien, die nur geringfügig besser sind. Die Kinder sind zu bedauern. Chancengleichheit ist wirklich nur ein Wort, und ein ziemlich veraltetes dazu. Soll ich dir ein paar Beispiele erzählen?” Ohne Alis Zustimmung abzuwarten, redete sie weiter. „In der ersten Klasse sitzt ein kleines Mädchen, das von der Mutter ein halbes Jahr lang jeden Tag für vier Stunden in der Wohnung eingeschlossen wurde, nur mit etwas Brot und dem Fernseher zur Unterhaltung. Die Mutter wollte arbeiten und wusste nicht, wohin mit dem Kind. Dass dieses Mädchen total verstört ist, ist doch klar. Es versteckt sich regelmäßig unter dem Regal, weinend, sabbernd, schreiend. Jedes Mal muss ich mit Engelszungen auf das Kind einreden, damit es rauskommt und mitarbeitet. In der Zeit stellen die anderen natürlich allen möglichen Unsinn an. Ist doch klar, sobald die Lehrerin abgelenkt ist, wird das ausgenutzt. Das haben wir früher auch getan. Nur ist heutzutage die Bereitschaft zur Brutalität ungleich höher.” Unangenehme Erinnerungen schufen harte Linien um ihre Mundwinkel. Sie berichtete von dem Jungen, der in Jugoslawien eine Bombenexplosion überlebt hatte, dem Mädchen, das abends mit Papa ins Bett musste, dem moslemischen Macho, der sich von einer Frau nichts sagen ließ und Mutter und Schwestern tyrannisierte, und den religiösen Sektierern, die ihren Kindern verboten, das Wort ›Weihnachten‹ auch nur zu schreiben. Mit allen Eltern hatte sie geredet, immer wieder. Erreicht hatte sie wenig. Florian durfte das Diktat über den Weihnachtsmarkt schließlich mitschreiben, nachdem die Mutter begriffen hatte, dass es um Rechtschreibung und nicht um religiöse Indoktrination ging; und Mustafas Vater hatte bloß gemeint: „Du gute Frau, du machen schon”!
    „Wie gerne würde ich machen, wenn Ausbildung und Zeit es zuließen”, resümierte Helga bitter.
    Mit beiden Händen umklammerte sie ihre Tasse. Es fiel ihr zunehmend schwerer, die emotionale Distanz zu wahren, die notwendig war, um erfolgreich arbeiten zu können. Manchmal, so wie jetzt, hätte sie ihren Frust und Ärger am liebsten hinaus geschrieen.
    Ali fuhr sich mit allen zehn Fingern durch die Haare. „Dass es so schlimm ist, hätte ich nicht gedacht”, sagte sie leise. „Weißt du, ich gehörte auch zu den unverständigen Eltern, die über die Lehrer herziehen, wenn diese nicht einmal mit so kleinen Kindern wie Grundschülern fertig werden, obwohl sie doch studierte Pädagogen sind.” Ihr Lächeln fiel etwas gequält aus. „Ich habe nie darüber nachgedacht, wie unterschiedlich die Kinder einer Klasse sind und wie schwierig es ist, allen gerecht zu werden. Ich bin automatisch davon ausgegangen, dass die meisten so sind wie meine beiden.” Sie hob die Hände wie zur Entschuldigung.
    „Du hast Glück mit Franziska und Veronika. Sie sind intelligent und lernwillig und lassen sich trotzdem nicht unterbuttern.” Beide schwiegen. Plötzlich wurde es merklich dunkler. Eine Wolke verbarg die Sonne, die bisher ins Wohnzimmer geschienen hatte. Als wollte das Licht sich der ernsten Stimmung anpassen, dachte Helga, und schon sprudelte die Frage aus ihr heraus, die sie Ali bisher nicht zu stellen gewagt hatte.
    „Warum tust du das alles? Du engagierst dich in der Kirchengemeinde, bist immer da, wenn die Schule die Hilfe der Eltern braucht und jetzt … jetzt hast du mich sogar überredet, auf Mörderjagd zu gehen. Ich meine …” Sie stockte.
    Ali drehte den Kopf zur Seite, so dass Helga nur ihr Profil mit der geraden Nase und dem vorgestreckten, willensstarken Kinn sah, und hob leicht die Schultern. „Ich bin ein unruhiger Geist, der eine sinnvolle Aufgabe braucht. Und da Herberts Einkommen für uns alle reicht, kann ich mir meine Arbeit aussuchen. Organisieren macht mir halt Spaß.” Die Lehrerin befürchtete, aufdringlich gewesen zu sein und wollte schon eine Entschuldigung murmeln, da drehte Ali sich ihr zu. „Nun ja, das wolltest du sicher nicht hören, oder?”

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