Renner & Kersting 01 - Mordsliebe
schon.”
„Ich wusste gar nicht, dass Benni und Jörg befreundet waren.”
„Jörg hatte doch nichts damit zu tun, das war sein Papa. Der ließ den Benni immer spielen, wann er wollte. Weil … das war nämlich wegen dem Geheimnis.” Dann, als hätte er bereits zuviel erzählt, lief er um das Schulgebäude herum auf den großen Hof, und Helga besaß neuen Stoff zum Nachdenken.
Müller, genannt Mörtel-Müller, war einer der reichsten Väter an der Schule. Er besaß mehrere Baustoffhandlungen. Wieso ließ Müller Benjamin an seinem Computer spielen, wenn die Kinder nicht einmal befreundet waren? Aber womöglich hatte Alex auch nur ein Gerücht aufgeschnappt oder wollte sich wichtig tun. Irgendwie klang seine Erzählung nicht sehr glaubhaft.
Nur zu gut erinnerte sie sich an die Geschichte von dem angeblich zusammengeschlagenen Jungen auf dem Schulhof. Vor wenigen Tagen erst hatte ein Mädchen ihrer Klasse träumend aus dem Fenster geschaut und plötzlich etwas am Boden liegen sehen. „Jan liegt auf dem Schulhof!”, hatte sie erstaunt ausgerufen. Der nächste, der hinaussah, glaubte, schon mehr zu erkennen: „Der Jan ist verletzt.” Bis sie selbst endlich ans Fenster trat, war Jan zusammengeschlagen worden, blutüberströmt und bewusstlos. Bei genauem Hinsehen musste sie feststellen, dass der Junge an den Turngeräten spielte und lediglich seine leuchtend rotgelbe Jacke über die Schultasche drapiert hatte. Sicherlich würden die Schauergeschichten, die über Gewalt und Brutalität auf dem Schulhof im Umlauf waren, nun um eine weitere bereichert werden. Sie konnte das wichtigtuerische Gerede der Kinder nicht gut ertragen, aber die Leichtgläubigkeit der Eltern störte sie noch mehr.
Sie hörte die Kirchturmuhr drei Viertel schlagen. Verflixt, sie hatte geträumt und sollte sich besser beeilen, wenn sie den Tafeltext zu Beginn der Stunde fertig haben wollte. Ohne einen Blick ins Lehrerzimmer oder auf den Vertretungsplan zu werfen, eilte sie im Laufschritt die Treppe zu ihrem Klassenraum hinauf, schleuderte Jacke und Tasche auf das Pult und wollte zur Kreide greifen. Sie wusste genau, dass gestern Mittag noch ein großes Stück vor der Tafel gelegen hatte, heute erwarteten sie winzige Reste, zu klein zum Schreiben. Verärgert lief sie die Treppe wieder hinunter, um den Hausmeister zu suchen, der die Kreide rationierte, als müsste er über jede einzelne Rechenschaft ablegen. In Gedanken warf Helga ihre Planung für den heutigen Vormittag über den Haufen. Dann mussten eben zuerst die Aufgaben aus dem Buch gerechnet werden.
Als sie mit zwei neuen Kreidestücken in der Hand über den Flur eilte, rannte ihr Eva entgegen, ein ruhiges, etwas altkluges Mädchen, das in ihre Klasse ging. Ganz außer Atem rief die Kleine schon von weitem: „Frau Renner, Frau Renner, hast du schon gesehen?”
„Was? Was soll ich gesehen haben?”
„Frau Kolczewski hat Linsen aufe Augen!”
Verdutzt starrte Helga das Mädchen an. Linsen? Klein, braun und wohlschmeckend? Dann schmunzelte Helga. Sicher meinte Eva Kontaktlinsen. In Momenten wie diesen mochte sie ihren Beruf gegen keinen anderen tauschen. Lachend schickte sie die Kleine auf den Schulhof und folgte langsam. Den Tafeltext zu schreiben, schaffte sie eh nicht mehr. Da klingelte es auch schon. An der großen Glastür stieß sie mit Elli zusammen, die sie am Arm festhielt.
„Halt, warte! Was ist mit den CDs? Weißt du, was drauf ist?”
Udo hatte gestern Abend noch angerufen.
„Es sind Spiele, und zwar ganz neue, sehr brutal, nichts für Kinder.”
„Hm.” Nachdenklich runzelte Elli die Stirn, während einige Schüler an ihnen zerrten und brüllten.
„Machen wir jetzt Kunst?”, rief der eine, „Sven hat mich gehauen!”, der andere, und „Roman sagt schlimme Wörter!”, petzte ein Erstklässler. Der Rektor kam, sah sie und blieb stehen. Als er sicher war, dass sie ihn bemerkt hatten, hob er demonstrativ seinen Arm und schaute auf die Armbanduhr. Elli seufzte. Obwohl sie sich gern länger mit Helga unterhalten hätte, sah sie doch ein, dass das jetzt nicht möglich war. „Bist du in der nächsten Pause im Lehrerzimmer? Vielleicht können wir dann in Ruhe reden?”, fragte sie deshalb.
Helga nickte abwesend und versuchte, vier Kindern gleichzeitig zu antworten. Der Rest der Klasse stürmte an ihr vorbei und die Treppe hinauf. Nach der Begrüßung, als die Schüler ihre Erlebnisse vom Vortag berichteten, überlegte sie zum wiederholten Male, wie die
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