Renner & Kersting 01 - Mordsliebe
lieber auf seinen Instinkt. Bisher hatten seine Einschätzungen immer gestimmt. In diesem Fall jedoch fühlte er sich unsicher. Eine Ursache bildeten die Kinder, die er nur schwer einordnen konnte. Seine eigene Kindheit war alles andere als der Norm entsprechend verlaufen und schon viel zu lange vorbei, als dass sie es ihm ermöglichte, die Welt der Grundschüler zu verstehen.
Gewaltsam riss er sich zusammen. Er dachte an den Vater von Benjamin, den alten Fränzke. Um den musste er sich zunächst kümmern. Alles andere konnte warten. Seltsame Familienverhältnisse herrschten da. Die Mutter war mit dem Bruder des leiblichen Vaters verheiratet, lebte aber mit einem anderen zusammen. So sah es jedenfalls zurzeit aus. Wo ihr Ehemann sich aufhielt, wusste sie angeblich nicht. Des Weiteren hatte sie zu verstehen gegeben, dass der Vater des Jungen den größten Teil seiner Zeit in diversen Kneipen verbrachte und dass Benjamin ihn dort auch besuchte. Vielleicht wussten die Zechbrüder etwas mehr. Obwohl … selbst die besten Freunde kannten die wahren Verhältnisse häufig nicht. Und schon drängte sein eigener Vater sich in die kriminalistischen Überlegungen. Dass der Mann ganz anders war als er sich gab, hatte bisher kein Außenstehender bemerkt, auch nicht, dass Vater und Sohn kaum noch miteinander sprachen. Der Herr Psychologe spielte seine Rolle in der Gesellschaft perfekt. Verdammt! Ärgerlich schüttelte Kersting den Kopf, als würde der dadurch klarer. An seinen Alten konnte er nach Dienstschluss denken. Dienstschluss? Innerlich musste er grinsen. Bei einem solchen Fall gab es keinen Dienstschluss. Jeder Beteiligte arbeitete solange er konnte. Drei, vier Stunden Schlaf mussten oft ausreichen. Also wäre es vielleicht doch besser, wenn er vorher … Ohne es eigentlich zu wollen, stieß er einen tiefen Seufzer aus.
„Na, was sagt unser Experte?”, unterbrach sein Kollege die trüben Gedanken.
„Der Täter hat möglicherweise graue Haare, zumindest einige graue Strähnen, falls die gefundenen von ihm stammen – hier, lies selbst.” Damit warf er Masowski die Akte auf den Schreibtisch. Erst in diesem Moment bemerkte er, wie sehr seine Finger sich verkrampft hatten.
„Du hast vielleicht eine Laune!” Nach einem schiefen Blick auf den Kollegen beugte Masowski sich über die Unterlagen.
Kersting verteilte den Kaffee auf zwei Becher und schob einen Masowski hin, der etwas knurrte, was sowohl ein Dankeschön als auch eine Verwünschung des Berichts sein konnte. Mit der Tasse in einer Hand starrte Kersting in den Regen hinaus und bedauerte, seinen Missmut an Masowski ausgelassen zu haben.
Der schlug die Akte zu und hob den Kopf. „Na, das sieht ja nicht gerade berauschend aus. Vielleicht sollten wir den ganzen Kram zur wissenschaftlichen Untersuchung ins Landeskriminalamt schicken.”
„Wozu? Eine Analyse der Haare hilft uns erst, wenn wir Vergleichsmaterial haben.”
„Was ist mit Tkatzka, der mit beiden Kindern im Park gesehen wurde? Graue Haare hat er auch.”
„Dazu ein wasserdichtes Alibi.”
„So, hm. Und nun? Hast du eine Idee, wie es weitergehen soll?”
„Noch sind alle Möglichkeiten offen.” Kerstings Lächeln geriet etwas schief. Seine Art, sich zu entschuldigen. „Ich denke, wir sollten uns noch einmal mit diesem René Biermann unterhalten, meinetwegen soll der Psychologe versuchen, etwas aus ihm rauszukitzeln. Ich habe das Gefühl, der Kleine weiß noch viel mehr.”
Dass Kersting freiwillig einen Psychologen hinzuziehen wollte, zeigte Masowski, wie verzweifelt der Kollege sich fühlte.
„Die Lehrer dürfen wir nicht vergessen”, fügte er deshalb hinzu und versuchte, Optimismus auszustrahlen. „Falls es sich nämlich nicht um einen Irren handelt, der wahllos zuschlägt, bleibt die Schule die einzige uns bisher bekannte Gemeinsamkeit. Ich finde, wir sollten jeden, der beide Kinder kannte, genau unter die Lupe nehmen, einschließlich aller Lehrer.”
„Ja, natürlich.” Kersting klang zerstreut.
„Das hört sich an, als seiest du anderer Meinung?”
„Nein, sicher nicht, ich wünschte nur, die Verdächtigen würden weniger statt mehr.”
Spiralförmig hatten sie den Kreis derjenigen erweitert, welche die Kinder kannten, angefangen bei Freunden und Verwandten über flüchtige Bekannte wie die Verkäufer in den Schreibwarenläden, wo die Schüler ihre Hefte kauften, bis hin zu jenen, die regelmäßig morgens an der Bushaltestelle warteten und die Kinder auf ihrem Weg zur
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