Renner & Kersting 01 - Mordsliebe
Verlegene Röte überzog plötzlich ihr Gesicht. „Es ist nämlich so, ich rede nicht gern darüber, aber … aber ich bin der Meinung, wenn jeder nur ein bisschen mehr Interesse zeigen würde am Nächsten, wäre unsere Welt erträglicher. Nicht nur, dass das Gefühl der Verantwortung verloren gegangen ist, auch unser Mitgefühl gilt nur noch den Menschen, die weit weg sind. Wie einfach ist es, Geld zu spenden und wie schwierig, sich um die eigenen alten Eltern zu kümmern. Selbst Mütter sind nicht mehr bereit, für ihre Kinder zu sorgen. Die Verantwortung wird delegiert an Kindergärten und Schulen. Und damit sind wir bei dem, was du vorhin gesagt hast. Jeder ist so sehr auf der Jagd nach dem eigenen Vorteil, dass er dabei seine Menschlichkeit, seine Mitmenschlichkeit verliert. Wir sind schrecklich oberflächlich geworden. Niemand bemüht sich um die Schwachen. Wer nicht mithalten kann, wird ausgegrenzt, Alte und Kranke werden in Heime abgeschoben, für deren Unterhalt kaum Geld zur Verfügung steht. Vergleiche einmal den Verdienst eines Menschen, der Verantwortung für das Leben anderer trägt, mit dem eines Spielers, der nur einen blöden Ball treffen muss. Das zeigt deutlich die Prioritäten unserer verkorksten Gesellschaft.” Ali hatte zum Schluss immer leiser und immer schneller gesprochen.
Nach einer kurzen Pause, in der Helga ihre Überraschung verdaute, die extrovertierte und temperamentvolle Ali so nachdenklich zu sehen, lachte die Freundin auf. „Du liebe Zeit, ich wollte keine Predigt halten, das sind nur so Gedanken, die mir manchmal durch den Kopf gehen. Lass uns besser zu Benni und Sandra zurückkehren und überlegen, was wir bisher herausgefunden haben.”
14
Gegen 13.30 Uhr kam Klaus Kersting aus der Technik zurück ins Büro. Winzige Spuren waren entdeckt und ausgewertet worden. Es gab jedoch nur wenige, welche sich mit Sicherheit dem Täter zuordnen ließen. Wieder hatten sich graue Wollfasern gefunden, genau wie beim ersten Fall, dazu noch ein kleines, kaum sichtbares Stückchen schwarzen Leders, vermutlich von einem Lederhandschuh, sowie ein oder zwei ausgefallene Haare und ein Teil eines Schuhabdrucks, Größe 41. Insgesamt nicht gerade viel. Kersting hatte mit dem Kriminaltechniker noch einmal alle Funde durchsprechen wollen in der Hoffnung, eventuell ein Detail übersehen zu haben. Dass diese Hoffnung trügerisch war, hätte er eigentlich vorher wissen müssen, dachte er gereizt, als er die Tür zum Büro aufstieß. Der Mann hatte jeden Satz mit ›möglicherweise‹ begonnen und mit ›könnte man schließen‹ fortgeführt. Selbst wenn er alle Konjunktivismen wegließe, halfen die Erkenntnisse erst dann weiter, wenn sie jemanden in Verdacht hatten. Und Verdächtige gab es noch nicht oder viel zu viele, je nachdem von welcher Seite man es betrachtete. Nicht einmal der Schuhabdruck half ihnen weiter. Es handelte sich um einen Sportschuh, den sowohl ein Mann als auch eine Frau getragen haben konnte. Ein Mann mit kleinen Füßen oder eine Frau mit großen. Nur Kinder, die konnten als Täter endgültig ausgeschlossen werden. Aber daran hatte er sowieso nicht geglaubt.
Jürgen Masowski saß an seinem Schreibtisch und studierte die letzten Vernehmungsprotokolle. Als er seinen Kollegen bemerkte, blickte er auf, verschluckte, was er eigentlich hatte sagen wollen und fragte stattdessen: „Kaffee?”
Kaffee war für Masowski Verlegenheitslösung und Allheilmittel zugleich. Wann immer er nicht weiter wusste, wurde erst einmal Kaffee gekocht.
Kersting strich die Haare aus der Stirn, überlegte einen Moment und zuckte die Schultern. „Warum nicht.” Helfen würde Kaffee zwar nicht, aber er brauchte etwas, um die innere Leere aufzufüllen. Im Moment hatte er das Gefühl, sich auf weitem Feld totzulaufen, ohne Aussicht, jemals dessen Rand zu erreichen.
Masowski grunzte, stand auf und ließ Wasser in die Kanne laufen.
„Dein Vater hat angerufen, du sollst ihn heute Nachmittag besuchen!”, sagte er wie nebenbei und konnte einen neugierigen Seitenblick nicht unterdrücken. In all ihren Gesprächen hatte Kersting seinen alten Herrn nie erwähnt.
Kersting erstarrte. Sein Vater und er hatten einander nichts zu sagen. Schon lange nicht mehr. Zu Weihnachten hatten sie telefoniert, sehr kurz, um jede Gefahr einer Auseinandersetzung oder peinlichen Stille zu vermeiden. Doch das letzte Treffen lag schon Jahre zurück. Was also wollte er? Ausgerechnet jetzt. Ob das mit dem Fall zu tun hatte?
Weitere Kostenlose Bücher