Renner & Kersting 01 - Mordsliebe
Kersting senior war Schulpsychologe im Nachbarort, wofür der Polizist mehr als dankbar war. Eine dienstliche Auseinandersetzung mit seinem alten Herrn stand auf seiner Rangliste der unangenehmen Obliegenheiten gleich nach dem Besuch im Löwenkäfig. Er spürte ein unangenehmes Kribbeln am ganzen Körper. Die Blöße, den Kollegen nach Details zu fragen, wollte Kersting sich jedoch nicht geben – außerdem hielt er es für unwahrscheinlich, dass sein Vater mehr als das Nötigste geäußert hatte. Vermutlich war das der einzige Punkt, in dem Vater und Sohn einander ähnelten. Beide scheuten davor zurück, Privates preiszugeben, da beide der Meinung waren, dass das den Umgang mit den Kollegen nicht erleichterte. Bei Kenntnis privater Probleme durfte man Rücksicht und Anteilnahme erwarten. Kersting wünschte beides nicht. Deshalb fiel ihm ein Stein vom Herzen, als er merkte, dass Masowski nicht fragen würde.
Seit dem Tod der Mutter, er war damals acht und wurde sofort in ein Internat abgeschoben, herrschte zwischen Vater und Sohn dieses verständnislose Schweigen. Keiner wollte es offen zugeben. Auch Weihnachten hatte er wieder dienstliche Gründe vorgeschoben, um ein Treffen zu vermeiden. Der Vater hatte sie fraglos akzeptiert, vermutlich ebenso erleichtert, dass sie sich nicht sehen mussten. Wann ihm die Situation bewusst geworden war, konnte er nicht mehr sagen. Doch an ihre erste und gleichzeitig letzte lautstarke Auseinandersetzung erinnerte er sich, als wäre sie gestern gewesen. Es war sein Entschluss, zur Polizei zu gehen, der die heftige Diskussion ausgelöst hatte – die erste und einzige, bei der er Sieger geblieben war. Dabei sorgte sich der Alte nicht einmal wegen der Gefahren, denen jeder Polizist ausgesetzt ist, nein, er hatte ihm schlichtweg vorgeworfen, den Beruf aus den falschen Gründen zu wählen. Und als Psychologe glaubte er, die Gedankengänge seines Sohnes besser durchschauen zu können als dieser selbst. Kersting kannte die Ursache seiner Aversion Psychologen gegenüber genau.
Masowski stand noch immer an der Kaffeemaschine und starrte ihn an. „Ja, gut.” Kersting nickte, um einen gleichgültigen Gesichtsausdruck bemüht. „Ist der Kaffee schon durchgelaufen?” Da der Besuch nicht zu umgehen war, würde er ihn möglichst kurz gestalten.
Heute Nachmittag wollte er zuerst Benjamins leiblichen Vater befragen. Die angegebene Adresse hatte sich als falsch herausgestellt, doch nun hatten sie den Mann gefunden, der zur Untermiete über einer Kneipe wohnte. „Äußerst passend”, wie ein Kollege spöttisch bemerkt hatte. Kersting hoffte nur, dass der Kerl nüchtern genug war, um zu verstehen, worum es ging. Angeblich hatte auch Benjamin sich häufiger in der Kneipe aufgehalten, weshalb Kersting sowohl den Wirt als auch die Freunde des Alten aufzusuchen gedachte.
Der Regen pladderte gegen das Fenster. Wieder schweiften die Gedanken ab. Zunächst zur Grundschule, wo das Regenwasser durch die Decke der Pausenhalle in einen bereitgestellten Eimer tropfte, dann zu der Lehrerin, die er aus einem spontanen Impuls heraus zum Essen eingeladen hatte. In dem Lokal, als sie ihre Distanziertheit abgelegt hatte, strahlte sie so viel Wärme aus, dass er sich zum ersten Mal seit langer Zeit für einen Moment geborgen fühlte. Vielleicht sollte er sie anrufen? Das Glitzern in den grünen Augen zu sehen, wenn sie lachte, wäre einen Versuch wert. Was gab es schon zu verlieren?
Dann schob sich Cora Linners Bild vor sein inneres Auge. Sandras Mutter war ein ganz anderer Typ. Sehr attraktiv, sehr modisch gekleidet und für seinen Geschmack eine Spur zu stark geschminkt. Trotz ihrer Trauer hatte sie versucht, zu helfen und alle Fragen ohne Zögern beantwortet. Sämtliche Zeugen bestätigten, dass sie sich Zeit für ihre Tochter genommen hatte, mit ihr einkaufen gegangen war, Spaziergänge und Ausflüge unternommen hatte. Immer allein, ohne männlichen Begleiter. Und doch störte ihn etwas. Dummerweise wusste er nicht zu sagen, was es wohl sein könnte. Vielleicht ein falscher Unterton, ein unpassender Gesichtsausdruck. Ihn bedrückte dieses unbestimmte Gefühl, und er ärgerte sich, es nicht greifen zu können. Auch fortwährendes Grübeln hatte der Erinnerung nicht auf die Sprünge geholfen. Womöglich verschwieg die Linners doch etwas, jedenfalls nahm er sich vor, sie noch einmal aufzusuchen.
Es gab Kriminalisten, die sich ganz und gar auf Spuren und Indizien konzentrierten, aber er verließ sich
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