Renner & Kersting 01 - Mordsliebe
hatte sein Arbeitsblatt zu Boden geworfen und hielt triumphierend eine in der Mitte durchgeschnittene Tintenpatrone hoch, sein Gesicht blau verschmiert. Da er auch schon Wasserfarben getrunken und ohne erkennbare Schäden an Filzstiften gelutscht hatte, sah die Lehrerin keinen Grund, nervös zu werden. Mit fester Stimme befahl sie dem Jungen, die Patrone wegzuwerfen und das Gesicht zu waschen.
„Ja, gleich”, kam es geistesabwesend zurück, dabei spritzte Tinte auf den Tisch. Einige Kinder standen auf, um ihm über die Schulter zu schauen. Mit wenigen Schritten war Helga neben ihm. Bevor sie ihm die Patrone entreißen konnte, klopfte es laut und anhaltend. Veronika rannte zur Tür, und ein Mädchen aus dem vierten Schuljahr trat zögernd ein. „Kann ich hier warten? Draußen ist es so kalt.”
„Wieso willst du in meiner Klasse warten? Hast du keinen Unterricht?”, fragte Helga, während sie das Kind von oben bis unten musterte.
„Erst um zehn. Aber meine Mutter hat gesagt, ich soll jetzt schon gehen.”
„Das stimmt!”, schrie Florian dazwischen. „Das ist Daniels Schwester. Und die haben heute erst um zehn, weil Frau Meierfeld nicht da ist. Stimmt doch, Daniel, nicht?”
Der Angesprochene brummte verlegen. Offensichtlich störte es ihn, dass seine Schwester hereingeplatzt war. Helga stöhnte. Es gab bereits genug Unruhe in der Klasse. Andererseits mochte sie das Mädchen auch nicht in der Kälte warten lassen. „Na schön, setz dich dorthin.” Mit dem Kopf deutete sie auf einen freien Stuhl. Inzwischen hatte Faisal die ganze Tischplatte mit blauen Flecken überzogen. Jetzt begann er, die Tinte zu Schlieren auseinander zu ziehen. Helga warf ihm ein paar Papiertücher zu und sagte so leise und drohend „saubermachen!”, dass jeglicher Widerspruch unterblieb.
„Heftet jetzt die Arbeitsblätter in die rote Mappe und nehmt die Lesebücher raus. Alle! Ja, auch die, die noch nicht fertig sind. Auf dem Tisch liegt nur noch das Lesebuch. Sonst nichts! Nein, die Autos kommen jetzt auch in die Tasche! Ich möchte kein Etui und kein Trinkpäckchen mehr sehen! Auch keine Schere, Faisal! Und keine Puppen! Eva und Veronika, legt eure Barbies bitte unter den Tisch.” Der heutige Vormittag kostete wieder reichlich Nerven.
Endlich große Pause! Die Stunden schienen nicht enden zu wollen. Helgas Gedanken gingen immer wieder eigene Wege. Nachdem sie es endlich mit viel Mühe geschafft hatte, sie vom gestrigen Abend zu lösen, wanderten sie zu Ulrike Stellmann. Ein Gefühl der Befangenheit überkam sie, als ihr Ellis Aussagen wieder einfielen. Alle Kolleginnen litten unter der nervlichen Belastung durch die Kinder, der fehlenden Anerkennung und dem Druck der Öffentlichkeit und der Vorgesetzten, die älteren mehr als die jüngeren. Auch sie, Helga, spürte den Stress und die dumpfe Angst, irgendwann zu resignieren. Aber gerade deshalb brauchten sie die lockere Atmosphäre, die oft im Lehrerzimmer herrschte. Sie bildete ein notwendiges Ventil, das leider allzu oft durch Ulrikes gereizte Stimmung verstopft wurde. Mit ihrer Nervosität und Hektik steckte sie viele Kolleginnen an. Auf der anderen Seite kamen die meisten Kinder mit Frau Stellmann gut zurecht, und soweit sie wusste, gab es auch keine Klagen seitens der Eltern. Ulrike war konservativ und nicht bereit, den ›neumodischen Kram‹, wie sie es nannte, mitzumachen, aber sie bemühte sich, die Schüler nicht nur zu unterrichten, sondern ihnen auch Verständnis entgegen zu bringen und sie zu erziehen. Und das kostete Kraft. Jeden Tag neu. Sie war eine ganz andere Persönlichkeit als Elli, die den Kindern viel Freiraum ließ und für die Kreativität wichtiger war als Leistung. Nun, jeder Lehrer besaß seinen eigenen Unterrichtsstil und setzte seine Prioritäten. Es wäre unfair, Ulrike zu verurteilen, nur weil Elli Probleme mit ihr hatte.
Im Lehrerzimmer herrschte das übliche laute, geschäftige Treiben wie in jeder Pause.
Frau Steinhofer suchte verärgert nach Mandalas für den Kunstunterricht, die natürlich nicht da lagen, wo sie hingehörten, Frau Kolczewski schimpfte laut über den Kopierer, der wie üblich unter Papierstau litt, die meisten drängelten sich jedoch an der Kaffeemaschine. Nach dem Mord kehrte langsam der Alltag wieder ein.
„Wie viel Geld mir gestohlen wurde?” Ulrike Stellmann strich nervös eine Haarsträhne aus der Stirn und zuckte dann die Schultern. „142 Euro oder 143 Euro, aber ganz genau weiß ich das nicht mehr. Wieso
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