Renner & Kersting 01 - Mordsliebe
überwinden musste. Auf ihrem Gesicht breitete sich mitfühlendes Verstehen aus.
„Verzeihen Sie mir mein dummes Gerede der letzten Wochen?”
„Schon längst geschehen.”
Jetzt war er wieder der Mann, den sie kannte, mit einem leichten Lächeln in den Mundwinkeln und einem humorvollen Funkeln in den Augen. Sie verstand nun etwas besser, warum er manchmal nach Ablenkung suchte. Niemand konnte sich ausschließlich mit solch einem Fall befassen. Sie beschloss, keine Rücksichten auf Alis Wünsche zu nehmen, sondern alles zu erzählen, was sie erfahren hatte – na ja, fast alles.
„Sandras Mutter hat gelogen, als sie behauptete, sie habe keinen Freund, es gibt da jemanden, dem das Mädchen vielleicht im Wege war.”
Kersting horchte auf. Sein Instinkt hatte ihn also nicht getrogen.
„Ich habe Sandras Hefte und Mappen, die noch in der Klasse lagen, ihrer Mutter gebracht”, berichtete Helga weiter. „Und dabei sah ich ihn.”
„Hm, und wieso glauben Sie, dass ihn das Kind störte?”
Sie musste zugeben, dass dies eine Vermutung war, die jedoch aufgrund ihrer vielfältigen schlechten Erfahrungen mit Müttern und Vätern nicht ganz unbegründet schien.
„Und dann habe ich noch etwas gehört”, fuhr sie eifrig fort. „Was halten Sie davon, wenn ein erfolgreicher Unternehmer einen fremden Jungen mit seinem PC herumspielen lässt, es seinem Sohn aber verbietet?” Der Polizist ließ die Gabel, die er gerade zum Mund führen wollte, wieder sinken. „Wie bitte?”
„Sehen Sie, genau das war auch meine Reaktion. Warum
sollte so ein Mann Benni in sein Büro lassen? Ich finde jedenfalls keine Erklärung.”
„Nun mal langsam und der Reihe nach. Wer ist der Unternehmer, und was hatte er mit Benni zu tun?”
Helga wollte gerade zu einer Erklärung ansetzen, als er sie auch schon wieder unterbrach: „Und woher wissen Sie das nun wieder?”
„Na ja, ich habe einfach den Kindern aufmerksam zugehört, die erzählen eine ganze Menge, vor allem wenn man nicht direkt fragt. Wissen Sie, bisher habe ich immer versucht, nicht hinzuhören, wenn sie etwas von daheim erzählten. Ich komme mir dann wie eine Voyeurin vor. Normalerweise bemühe ich mich, möglichst schnell zu vergessen, was ich gehört habe, es sei denn, es dreht sich um wirklich gravierende Dinge.”
„Jetzt bin ich aber neugierig. Erzählen Sie mir ein bisschen von dem, was Sie schnell wieder vergessen wollen.”
Sie blickte ihn groß an. „Sie glauben mir nicht!”
„Ich kann mir nicht vorstellen, dass man wirklich so ohne weiteres genau das vergessen kann, was man vergessen möchte. Etwas wird doch sicherlich hängen bleiben.”
„Reine Übungssache, vermute ich. Ich bin jedenfalls froh, wenn ich mittags nicht mehr weiß, was morgens alles in der Schule passiert ist. So kann ich mich besser erholen, und außerdem verringert sich die Gefahr, den Kindern gegenüber nachtragend zu sein.”
„Keine schlechte Taktik. Nun verraten Sie mir aber, was erzählen Kinder in der Schule?”
„Zum Beispiel, wenn Papa im Treppenhaus übernachten musste, weil Mama ihn nicht reinließ, dass Papa neuerdings im Gefängnis wohnt, oder dass Mamas Freund wieder besoffen war und Mama geschlagen hat, solche Sachen eben.”
„Das ist nun wirklich nicht harmlos.”
„Nein, deswegen habe ich es wohl auch nicht vergessen.”
Sie dachte an all die vielen Auseinandersetzungen im Lehrerzimmer über die Ursachen der Verwahrlosung, an die überforderten, oft allein erziehenden Mütter, an die Väter, denen der Alkohol wichtiger war als Arbeit und Familie, oder die ganz einfach keinen anderen Trost kannten, an junge Erwachsene, die nie gelernt hatten, mit Geld umzugehen und teilweise mehr Schulden hatten, als sie in einem Leben abzahlen konnten. Wie sollten Kinder, die keine Erziehung erhielten, später einmal ihre eigenen Kinder erziehen? Es war ein Teufelskreis.
Auch wenn es kaum ein Lehrer wahrhaben wollte, so zählte doch oft genug auch in der Schule das Recht des Stärkeren, unter dem dann die schüchternen, zurückhaltenden Kinder zu leiden hatten. Immerhin gab es noch einige, die von ihren Eltern gesagt bekamen, sie sollten nicht prügeln, nicht zanken, sich gut benehmen. Helga seufzte, als sie daran dachte, wie oft sie sich hilflos fühlte, wenn diese Kinder kamen und sich beschwerten.
Klaus Kersting legte sein Besteck beiseite. „Woran denken Sie?”
„Nicht so wichtig. Also, was meinen Sie, hat es eine Bedeutung, dass Mörtel-Müller Benjamin an einem
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