Renner & Kersting 01 - Mordsliebe
Verdacht?”
„Es gibt vier Kinder in meiner Klasse, denen ich einen Diebstahl zutraue, aber wirklich verdächtigt habe ich … ”
Sie zögerte.
„Benjamin Fränzke!”
„Richtig!”
Es passte alles zusammen! Es war Benjamin gewesen, der seine Beute in dem leeren Klassenraum eine Treppe tiefer versteckte, zusammen mit teuren Computerspielen, die er auf Mörtel-Müllers PC abspielte. Aber welche Verbindung gab es zu den Morden?
17
Schlaff wie ein nasser Sack hing Helga auf ihrem Stuhl. Nach sechs Stunden Unterricht und zwei Pausen, in denen es keine Erholung gegeben hatte, sehnte sie sich nur noch nach ihrer Couch. Stattdessen saß sie in einer Konferenz, auf der es nichts Neues zu besprechen gab. Aber der Rektor hatte nun einmal diese monatlichen Zusammenkünfte angeordnet, und da er seine Ansprachen liebte, gab es auch keine Probleme, die Zeit zu füllen. Obwohl alle über die häufigen Konferenzen murrten, trug doch jede ihren Teil dazu bei, sie länger als nötig auszudehnen. Probleme mit einzelnen Schülern wurden in epischer Breite dargelegt, Anträge mit ebenso ausführlicher wie überflüssiger Begründung gestellt, einfache Mitteilungen zu geänderten Pausenaufsichten und Vertretungsplänen so formuliert, dass zum Verständnis mehrfaches Nachfragen notwendig wurde. Offensichtlich waren Lehrerinnen nicht fähig, sich kurz zu fassen. Helga gähnte verstohlen und überlegte, ob sie es wohl riskieren könnte, nebenbei ein paar Hefte nachzusehen. Da es keine Möglichkeit gab, dies unauffällig zu tun, verwarf sie die Idee als zu unhöflich. Wie üblich fiel Frau Stellmann immer dann etwas zu einem Thema ein, wenn alle anderen dieses längst abgehakt hatten, was ärgerliches Gemurmel und böse Blicke zur Folge hatte. Gereizt wartete Helga auf das Ende der Veranstaltung. Dann konnte sie endlich Angela Steinhofer ansprechen, um etwas über Mörtel-Müller zu erfahren. Angela war Klassenlehrerin der 4b, zu der auch Müllers Sohn Jörg gehörte. Während Raesfeld einen Termin nach dem anderen erwähnte und abhakte – Gottesdienste, Elternsprechtage, blaue Briefe – musterte Helga ihre Kollegen und Kolleginnen, und ihr fiel auf, wie wenig sie eigentlich über jeden einzelnen wusste.
Die beiden Morde hatten ihr Leben verändert. Jeden Morgen, wenn sie die Kinder anschaute, spürte sie, wie die Angst sich in ihr ausbreitete. „Ein Mensch, der schon zweimal getötet hat, mordet auch ein drittes Mal”, hatte Ilse gesagt. Und niemand konnte etwas dagegen tun! Diese hilflose Wut war es, die sie zermürbte und die Angst um das nächste Opfer. Noch nie hatte sie so viel über die Menschen in ihrer Umgebung nachgedacht. Sie ertappte sich in der letzten Zeit häufig dabei, dass sie auf der Straße Passanten musterte und sich fragte: Könnte der es gewesen sein? Oder der? Kersting hatte ihr erklärt, dass der überwiegende Teil der geistig Gestörten sich die meiste Zeit unauffällig verhalten würde. Und was bedeutete dieses Etikett überhaupt? War nicht jeder, der einem anderen das Leben nahm, geistig gestört? Wo war die Grenze zu ziehen zwischen einem ›normalen‹ und einem ›irren‹ Motiv? Sie wusste, wie es in den Familien vieler Schüler aussah, es wurde gebrüllt und geschlagen, gesoffen und gehurt. Verhaltensweisen, die noch vor wenigen Jahren als auffällig galten, waren hier und heute schon fast die Regel.
Helga hatte sich stets für großzügig und tolerant gehalten und den Erklärungen und Versprechungen der Eltern vertraut – bis sie eines Schlechteren belehrt wurde. Wie im Falle Linners. Wie oft hatte die Mutter versprochen, sich mehr mit Sandra zu beschäftigen, ihr den Unterschied von ›mein‹ und ›dein‹ beizubringen, ihre Hausaufgaben zu kontrollieren und mit ihr zu üben, insbesondere das Einmaleins. Das hatte Sandra nie begriffen. Und sie, Helga, hatte der Frau geglaubt, weil sie ihr hatte glauben wollen. Nicht aus Naivität, sicher nicht – aber vielleicht aus Selbstschutz, weil sie keine Alternative kannte. Es gab niemanden, der sich um solch einen harmlosen Fall von Vernachlässigung gekümmert hätte. Kein Jugendamt schreitet ein, weil ein Kind ab und zu ein paar Sachen einsteckt, die ihm nicht gehören, weder Hefte noch Stifte zum Unterricht mitbringt, seine Hausaufgaben nur unregelmäßig erledigt und manchmal ungewaschen und ohne Frühstück zu spät in die Schule kommt. Da gibt es schlimmere Fälle, viel schlimmere. Was also hätte sie als Lehrerin noch tun können? Obwohl
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