Renner & Kersting 01 - Mordsliebe
sie sich diese Frage immer wieder stellte, fand sie keine Antwort. Und fühlte sich doch auf unbestimmte Weise schuldig.
Endlich näherte die Konferenz sich dem Ende. Als Helga zur Uhr schaute, geriet sie in Versuchung, das Gespräch mit Angela zu verschieben. Aber je eher sie herausfand, was zwischen Benjamin und Müller vorgegangen war, umso besser. Wenn jemand aus dem Kollegium etwas über Mörtel-Müller wusste, dann die Kollegin, die ihn während der Elternabende und etlicher Schulveranstaltungen kennen gelernt hatte.
Fast schien es, als schreckte Angela bei ihrer Frage zurück. „Müller? Warum willst du etwas über den wissen? Der Jörg ist ein guter Schüler. Es gibt keine Probleme.” Die Antwort erfolgte rasch, viel zu rasch.
„Darum geht es mir doch gar nicht, obwohl ich es erstaunlich finde. Ich kenne den Jungen, er war letztes Jahr bei mir in der Kunst-AG, und ich hatte den Eindruck, dass er nicht zu den Intelligentesten zählt.”
„Als Klassenlehrerin muss ich das wohl besser beurteilen können. Ich habe es eilig. Du entschuldigst.” Sie griff an Helga vorbei nach ihrem Mantel, der an der Garderobe neben der Tür hing, und wollte das Lehrerzimmer verlassen. Seltsam. Angela unterhielt sich sonst gern mit den Kolleginnen. Doch das Thema Müller schien ihr unangenehm zu sein. Aber warum? Helga wollte doch nur etwas über den Vater wissen. Der Junge interessierte sie gar nicht. Kurzentschlossen lief sie hinter der Kollegin her.
„Angela, warte! Lass uns in Ruhe reden.”
Die Kollegin drehte sich mit einem Ruck um. „Was willst du denn noch? Es gibt nichts zu reden.” Ihr unnahbarer Blick sowie ihre abweisende Stimme steigerten Helgas Neugier. „Bleib doch mal stehen. Mir geht es nur um den Alten. Bitte sag mir, was du über ihn weißt. Anscheinend besuchte Benjamin ihn häufiger, um mit dem Computer zu spielen. Findest du das nicht seltsam? Also lass uns irgendwohin gehen, wo wir uns unterhalten können.” Helga hatte schnell gesprochen, um Angela keine Gelegenheit zu geben, sie zu unterbrechen oder weiter zu gehen.
Angela sah sie zweifelnd an. Helga glaubte, einen ersten leichten Riss in ihrer Abwehr zu bemerken. Deshalb fuhr sie eindringlich fort: „Erzähl mir nicht, dass der Kerl dir sympathisch ist. Ich habe ihn nur einmal auf dem Schulhof erlebt während einer Aufsicht, und ich fand ihn widerlich.”
„Das ist er!” Der Stoßseufzer kam aus tiefster Seele. „Du ahnst gar nicht, wie widerlich. Also gut, reden wir. Vielleicht ist es besser so.”
Sie fuhren hintereinander her bis in die Tiefgarage unter der Springe. Café Tigges war wie immer um diese Zeit gut besucht. Trotzdem fanden sie noch einen freien Tisch in einer Ecke. Schweigend warteten sie auf ihren Kaffee, und die Stille zwischen ihnen drohte unangenehm zu werden. In Helga häuften sich die Bedenken, die Kollegin so bedrängt zu haben. Doch jetzt gab es kein Zurück mehr.
Als die Tassen vor ihnen standen, bat Helga: „Nun erzähl, was ist los?”
Angela hielt die Zuckerzange in der Hand. Äußerlich schien sie ruhig und beherrscht, doch ihre leicht zitternden Finger verrieten sie.
„Also, du willst etwas über Müller wissen.” Sie stieß den Namen mit soviel Hass hervor, dass Helga erschrak. „Er ist ein Dreckskerl, ein Arschloch ohnegleichen!” Noch ein bitteres Auflachen, dann begann Angela zu erzählen. Zunächst zögernd und stockend, während sie nach den richtigen Worten suchte, allmählich flüssiger. Mit einigen Umwegen brachte sie die ganze Geschichte heraus.
„Du siehst also, ich habe keine Wahl, ich werde ihm nachgeben müssen!” Sie zuckte die Achseln, resigniert und verzweifelt.
Helga war wütend. „Das ist Erpressung, eiskalte Erpressung und gehört bestraft! Du musst ihn anzeigen! Was glaubst du, was geschieht, wenn du ihm nur ein einziges Mal nachgibst? Der hat dich dein Leben lang in der Hand und kann jederzeit auf dich zurückkommen. Das ist viel zu gefährlich.”
„Du hast gut reden!” fuhr Angela hoch. Als hätte dieser Ausbruch sie ihrer Kraft beraubt, klang ihre Stimme jetzt müde. „Außerdem gibt es nur den einen Sohn. Wenn Jörg die Grundschule verlassen hat, geht mich die ganze Familie nichts mehr an.”
„Ich wäre da nicht so sicher. Stell dir bloß einmal vor, der hat Freunde mit Kindern in unserer Schule, denen er einen Gefallen erweisen will, dann wird er dich benutzen, um Druck auf das Kollegium auszuüben, oder er kommt auf die Idee, bei uns für seine Schreibtische
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