Renner & Kersting 01 - Mordsliebe
Ahnung, aber großartig reden, das konnte sie.” Mit einem Ruck drehte sie sich um. Tiefe Linien in den Mundwinkeln ließen ihr Gesicht hart erscheinen. „Vor ein paar Tagen stand sie plötzlich vor der Tür, angeblich, um Sandras restliche Sachen zu bringen, dabei quoll ihr die Neugier aus den Augen. Es war schon fast peinlich. Ach so, jetzt verstehe ich … sie hat Ihnen von Eddi erzählt. Sie hat ihn gesehen, als er kam und Ihnen dann brühwarm alles berichtet. Stimmt’s?”
Als er nicht sofort reagierte, wandte sie ihm wieder den Rücken zu, als sei ihr seine Antwort gleichgültig. Plötzlich drang von draußen lautes Kindergeschrei herein. Kersting bemerkte, wie sie erstarrte.
„Das ist doch unwichtig. Ebenso unwichtig wie das Gerede der Leute. Was zählt, ist allein, dass Sie Sandra liebten, dass Sie ihr eine gute Mutter waren in der Zeit, in der sie bei Ihnen sein durfte.”
Langsam, ganz langsam, drehte die Linners sich herum. Alle Spannung fiel von ihr ab, und sie wirkte zerbrechlich und verletzbar. Forschend blickte sie dem Polizisten ins Gesicht, der mehr Verständnis zeigte als sie je einem Menschen zugetraut hatte. Fast flüsternd kam ihre Frage: „Hätte sich etwas geändert, wenn ich … wenn ich …?”
„Nein, nichts. Niemand weiß, was im Kopf eines Mörders vorgeht. Und warum er sich ausgerechnet Sandra ausgesucht hat?” Kersting hob die Schultern, ein Zeichen von Hilflosigkeit. „Sie dürfen sich keine Vorwürfe machen. Sie konnten ihn nicht aufhalten.”
Fahrig wischte sie eine Träne aus dem Auge, dann richtete sie sich mit einem Ruck auf. Es schien, als bedaure sie ihre momentane Schwäche. Ihre Stimme klang jetzt wieder kühl und beherrscht.
„Ich hoffe, Sie finden den Kerl, der ihr das angetan hat. Aber glauben Sie mir, Eddi hat nichts damit zu tun. Warum sollte er?”
„Haben Sie wegen Sandra mal Kunden abgelehnt, vielleicht weil das Kind krank war oder aus welchem Grund auch immer?”
„Das ist vorgekommen, ja, aber nicht oft, und Eddi hatte Verständnis.”
„Wie? Er hatte nichts dagegen?”
„Ich bin schließlich sein bestes Pferd im Stall.” Wieder blitzte Spott in ihren Augen. „Ich habe es nicht nötig, an der Straße zu stehen. Ein Anruf genügt, und ich komme ins Haus oder ins Hotel. Viele Männer wünschen meine Begleitung, sei es für sich selbst, sei es für Freunde von außerhalb, Geschäftsessen, gesellschaftliche Verpflichtungen oder einfach nur Vergnügen. Ich kann mich jeder Gesellschaft anpassen und entsprechend Konversation betreiben. – Nein, das Risiko, mich zu verlieren, würde Eddi nie eingehen.”
„Werden Sie weiterhin für ihn arbeiten?”
Schulterzucken. „Ich weiß nicht. Ist leicht verdientes Geld, aber jetzt …”
Wenn Eddi das vorher gewusst hatte, hätte er keinen Grund gehabt, die Kleine umzubringen. Ganz im Gegenteil. Sie war die Triebfeder, die ihre Mutter Eddis Wünschen entsprechend arbeiten ließ.
„Wusste Eddi, warum Sie für ihn arbeiteten?”
„Dass ich es nur für das Kind tat? Keine Ahnung. Über solche Sachen haben wir nie gesprochen … Sie glauben doch nicht, dass er … ausgeschlossen. Er ist kein Mörder. – Na schön, er hat schon mal härter zugeschlagen als erlaubt, aber auch nur, um uns die unangenehmen Typen vom Halse zu halten. Eddi ist in Ordnung, das können Sie mir glauben.”
Nachdenklich fuhr Kersting ins Präsidium zurück. War es möglich, dass Lembert gedacht hatte, die Frau würde ohne Kind mehr und besser für ihn arbeiten? Die Lösung erschien ihm zu glatt, zu einfach. Die Realität sah in der Regel komplizierter aus.
19
Wo ist die Flasche? Los, gieß ein! Nun mach schon, noch ein Glas! Die Ohrfeige brannte, als sie mit zitternden Händen das Glas voll schenkte. Der Schmerz durchdrang ihren ganzen Körper, sie hatte das Gefühl, als habe die Ohrfeige weit mehr getroffen als nur die Wange. Verängstigt umklammerte sie die Tischkante, als die Stimme wieder auf sie eindrang. Da ist nichts mehr drin! Los, hol eine neue Flasche. Ich brauche meine Medizin. Sofort. Es gab kein Entkommen. Wohin sollte sie auch gehen, schließlich war alles ihre Schuld. Nervös zählte sie die wenigen Geldstücke. Es würde gerade für eine weitere Flasche reichen, doch nicht für mehr. Sie spürte den Hunger, aber es gab Wichtigeres. Ihre Mutter brauchte die Medizin. Wieder drang die schrille Stimme auf sie ein: Nun geh endlich! Hol mir was zu trinken! Sie hielt sich beide Ohren zu, doch die Stimme hörte sie
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