Renner & Kersting 01 - Mordsliebe
Versuchen, die Redeflut zu unterbrechen, wurde Helga energisch.
„Sind Sie mit Marcel verwandt oder eine Nachbarin?”
„Nein, das sag ich doch die ganze Zeit. Zum ersten Mal habe ich ihn beim Kaufmann getroffen. Er fragte, ob er meine Tasche tragen dürfe. Ich war überrascht über soviel Hilfsbereitschaft und auch misstrauisch. Heutzutage muss man ja schon bei Kindern vorsichtig sein, nachdem was man so hört. Aber der Kleine war sehr höflich und lehnte sogar eine Belohnung ab. Dann kam er mit in meine Wohnung, und wir haben ein bisschen gespielt, ›Mensch ärger dich nicht‹ und so. Na ja, und seitdem kommt er öfter.”
„Also kennen Sie seine Familie überhaupt nicht.”
„Nein!” Die Anruferin stöhnte laut angesichts des Unverständnisses der Lehrerin. „Würden Sie mir jetzt bitte die Telefonnummer geben, damit ich mal mit seiner Mutter sprechen kann? Es kann doch nicht angehen, dass die Frau dauernd unterwegs ist und ihren Sohn allein auf der Straße herumlaufen lässt. Entweder lügt der Junge oder die Mutter ist verrückt. So was kann man doch nicht machen!”
Die Frau hatte sich in Wut geredet. Ihre Stimme tönte immer lauter, aber Helga durfte ihr nicht helfen. Wohmans besaßen eine Geheimnummer, die weiterzugeben streng verboten war. Sie erinnerte sich noch gut an die heftigen Diskussionen mit Marcels Mutter, die nicht einmal der Schule ihre Telefonnummer hatte nennen wollen. Helga hatte geschmeichelt und gedroht, mögliche Unfälle des Kindes in den schwärzesten Farben geschildert und an das Verantwortungsbewusstsein einer Mutter appelliert, bis diese endlich nachgegeben hatte.
Kaum lag der Hörer wieder auf der Gabel, da stürzte Kollegin Kolczewski mit rotem Gesicht herein.
„Wie kannst du meine Telefongespräche annehmen? Marcel ist nicht mehr in deiner Klasse. Ich bin für ihn verantwortlich, und du hast gefälligst nicht dazwischenzufunken.”
Helga wusste kaum, wie ihr geschah. Dass Linda leicht aufbrauste, wusste jeder, aber es gab keinen Grund sie so anzufahren.
„Was ist eigentlich mit dir los? In der letzten Zeit mischst du dich überall ein, steckst deine Nase in Dinge, die dich nichts angehen. Du bist total verändert”, fuhr Linda erbarmungslos fort.
„Wieso? Was meinst du? Ich weiß gar nicht, wovon du redest.” Helga starrte die streitsüchtige Kollegin perplex an.
„Ach nein? Weshalb wurde Ellis Fund nicht offen auf der Konferenz besprochen? Was für Heimlichkeiten gibt es plötzlich zwischen dir, Elli und der Stellmann? Und an Angela Steinhofer hast du dich auch rangemacht. Weshalb? Dich hat doch sonst nie tangiert, was im Kollegium ablief.” Hochaufgerichtet, das Kinn fordernd empor gereckt, stand sie mitten im Raum. „Du hast dich nie um etwas gekümmert, ganz im Gegenteil. Die elegante Frau Renner ist möglicher Arbeit immer fein aus dem Weg gegangen. Und plötzlich übernimmst du freiwillig ’ne Pausenaufsicht, gibst dich mit Kindern aus fremden Klassen ab? Da stimmt doch was nicht. Also, was willst du beweisen?”
Da saß Helga nun tatsächlich in der Klemme. Was sollte sie der erbosten Kollegin sagen? Die Wahrheit bestimmt nicht, jedenfalls nicht die ganze Wahrheit. Linda würde sie auslachen und zum Gespött des gesamten Kollegiums machen.
Ebenso wie Helga besaß auch Linda keine Freundinnen im Kollegium. Wenn sie miteinander sprachen, beschränkten sie sich auf die schulischen Notwendigkeiten. Wahrscheinlich beruhte die Antipathie, die Helga der Kollegin gegenüber empfand, auf Gegenseitigkeit. Linda war jung und ehrgeizig, im Beruf noch unerfahren und – wie Helga bereits mehrfach erlebt hatte – nicht bereit, auf gut gemeinte Ratschläge zu hören. Misserfolge schrieb sie stets den Umständen zu, soweit sie diese überhaupt zugab. Sie trug Idealismus und pädagogisches Sendungsbewusstsein vor sich her, als wollte sie durch ihr Engagement alle Missstände der Gesellschaft ausgleichen. Damit ihr Name im Schulamt nicht in Vergessenheit geriet, nahm sie an allen Fortbildungsveranstaltungen teil, auf denen sie möglicherweise Vorgesetzte traf, und tat im Übrigen alles, um ihren Ruf als beliebteste Lehrerin der Schule zu festigen. So hatte sie Verhaltensweisen entwickelt, die Helga immer wieder aufs Neue verärgerten. Gleichgültig, welche Verbote in der Konferenz beschlossen worden waren, Frau Kolczewski ignorierte sie und erteilte den Kindern ihre Zustimmung oder schien Zuwiderhandlungen nicht zu bemerken. Sei es, dass sich die Schüler während
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