Renner & Kersting 01 - Mordsliebe
an die Schülerakten kam sie nicht so ohne weiteres heran. Die Sekretärin hütete sie wie ihren Augapfel, und auch Raesfeld rückte den Schlüssel nur nach ausführlicher Begründung heraus. Welchen Grund konnte sie angeben, Einsicht in Lindas Unterlagen nehmen zu wollen?
Nach der sechsten Stunde trödelte sie solange herum, bis sie sicher sein konnte, dass alle Kollegen gegangen waren. Dann schlich sie die Treppe zum ersten Stock hinauf und öffnete Lindas Klassentür mit ihrem Passepartout. Sie hoffte, dass Linda ihr Klassenbuch sorgfältig führte und im Pult liegen hatte. Doch als sie den Raum betrat, starrte sie fassungslos auf das Durcheinander. Hefte, Bücher, Mappen, Bilder von Kindern, alte und neue Arbeitsblätter und Notizzettel stapelten sich in wirren Haufen auf allen Fensterbänken, in mehreren Regalen und auf dem Pult. Wie sollte sie diesen Wust durchsehen, ohne Spuren zu hinterlassen? Vorsichtig suchte sie die teilweise schon verstaubten Stapel nach dem leuchtenden Grasgrün des Klassenbuches ab. Erst als sie mehrere Haufen vergeblich entwirrt hatte, fand sie das Gesuchte auf der Fensterbank, unter Bildern verborgen. Ihre Hände zitterten, als sie es aufschlug. Immer wieder warf sie nervöse Blicke zur Tür. Jeden Moment konnte die Putzfrau hereinkommen. Was sollte sie sagen, warum sie sich in einer fremden Klasse aufhielt? Hastig überflog sie die Seiten und begann dann lautlos zu fluchen. Hier standen nur die Namen der Schüler und ihre Telefonnummern. Was nun? Sie verschloss Lindas Klassentür wieder und stieg langsam die Treppe hinunter, während sie gedanklich die weiteren Möglichkeiten durchging. Der Hausmeister besaß Nachschlüssel für sämtliche Türen und Schränke. Vielleicht konnte er helfen. Jetzt, da keine Gefahr bestand, dass Lehrer ihn belästigten, saß er in seinem Kabäuschen und las die Bildzeitung.
„Verzeihung”, verlegen und hilflos stand Helga in der Tür. „Haben Sie einen Schlüssel zum Aktenschrank? Ich brauche dringend eine Schülerakte.”
„Hm?”
„Ich … äh ich habe leider vergessen, die neue Adresse eines Schülers ins Klassenbuch einzutragen und … äh ich muss seinen Eltern unbedingt einen Brief schreiben. Möglichst heute Nachmittag noch. Können Sie mir aufschließen?”
„Na ja, eigentlich …”
„Es tut mir schrecklich Leid, aber heute Morgen war so viel los, dass ich einfach vergessen habe, die Sekretärin darum zu bitten.” Sie schenkte ihm ein unsicheres Lächeln.
Dem vermochte er nicht zu widerstehen und suchte knurrend in einer mit Schlüsseln gefüllten Schublade. „Der hier müsste es sein. Und bringen Sie ihn gleich zurück.”
„Selbstverständlich. Vielen Dank!” Gut gemacht, dachte Helga und klopfte sich innerlich selbst auf die Schulter. Wenn sie so weiter agierte, würde noch eine richtige Detektivin aus ihr.
Schnell hatte sie die Akte gefunden und notierte sich beide Adressen, die dort standen. An die eine in der Johannisstraße erinnerte sie sich. Die andere kannte sie nicht. Entweder waren Wohmans umgezogen und die Sekretärin hatte vergessen, die alte Adresse auszustreichen, oder ein Elternteil war ausgezogen, und für den Sohn galten beide Anschriften – was Helga sehr hoffte. Sie erinnerte sich, dass Wohman mehr trank als er vertragen konnte und in betrunkenem Zustand Frau und Kind schlug. Damals, als Marcel noch ihre Klasse besuchte, hatte die Lehrerin bei allen Gesprächen geraten, diesen Mann zu verlassen, gab es für sein Verhalten doch keine Entschuldigung, nicht einmal eine Erklärung. Zu jenem Zeitpunkt hatte er eine gut bezahlte Arbeit und eine Frau, die ihn stets in Schutz nahm. Etwas, was Helga ganz und gar nicht verstand. Im Gegensatz zu Frau Wohman, vertrat sie die Meinung, dass der Mann einen miesen Charakter besaß und sich nie ändern würde. Sie fühlte sich in ihrem Urteil durch das Erlebnis im Park bestätigt. Doch solange Marcel zu ihr in die Klasse gegangen war, hatten seine Eltern sich nicht getrennt, obwohl seine Mutter bei jedem Treffen blasser und verhärmter aussah. Nicht nur einmal erschien sie mit Sonnenbrille oder Schrammen im Gesicht. Aber immer wieder fand sie neue Gründe, die Trennung hinauszuzögern: erst war es das Weihnachtsfest, das sie nicht allein feiern wollte, dann der Urlaub, den sie gemeinsam gebucht hatten, mal wollte sie dem Jungen nicht den Vater nehmen, dann wieder hatte sie Angst, von der Sozialhilfe abhängig zu sein. Aber nun existierten zwei Adressen, was darauf
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