Renner & Kersting 01 - Mordsliebe
verheimlichen hat, kriegen wir auch noch raus. Mir fällt schon was ein! Ich brauche nur etwas Zeit zum Nachdenken.”
Helga verkniff sich jeglichen Kommentar.
Nachdem eine dicke Schicht Make-up die schlimmsten Blessuren verdeckte und Ali mit einer neuen Strumpfhose versehen worden war, verließ sie Helgas Wohnung.
Die legte eine CD mit Entspannungsmusik auf – ihr gefielen die mit den Klängen der Natur angereicherten Stücke – und streckte sich erleichtert auf dem Sofa aus, um die ganze Geschichte noch einmal zu durchdenken.
22
Der ganze Körper tat ihr weh, doch der Schmerz war nicht zu fassen. Sinnlos, einen Arzt aufzusuchen. Niemand konnte ihr helfen. Es fühlte sich an, als existiere da ein Loch in ihr, das sich immer weiter ausdehnte und aus dem Angst und Panik hervorkrochen. Es war die Leere, die grenzenlose, schwarze Leere, die so schmerzte, dass sie nur mit Mühe ihren Verpflichtungen nachkommen konnte. Sie musste etwas tun. Irgendetwas. Sie wusste, dass es möglich war, dieses Loch in ihr zu füllen, doch weder vermochte sie zu sagen, woher das Wissen stammte, noch wie sie wieder heil werden konnte. Unruhig lief sie durch die Straßen. Manchmal glaubte sie, diese Sehnsucht nicht länger ertragen zu können. Sehnsucht wonach? Wohin? Wieder daheim, ging sie zu Bett, aber heute konnte auch die Wärme der Decke nicht trösten. Unruhig wälzte sie sich hin und her.
Seit zwei Tagen wartete Helga nun auf eine Gelegenheit, sich mit Beate Paukens zu unterhalten. Es sollte wie zufällig aussehen und unbedingt nach dem Unterricht sein, damit die Schulglocke sie nicht zum Abbruch ihres Gespräches zwingen konnte. Beate gehörte zu den Kolleginnen, die wenig redeten und gar nichts von sich erzählten. Helga wusste, dass sie unverheiratet war und keine eigenen Kinder hatte. Sie fiel durch ihre permanente Hilfsbereitschaft auf, die von den meisten Kollegen allerdings Dummheit genannt und weidlich ausgenutzt wurde. Gleichgültig ob es um die Vorbereitung von Schulgottesdiensten ging, ob jemand Bastelmaterial vergessen hatte, das er unbedingt in der folgenden Unterrichtsstunde brauchte oder eine Vertretung für die Pausenaufsicht suchte.
Beate wusste Rat und half. Sie war diejenige, die sich bei den Sozialdiensten auskannte und die besten Beziehungen zum Jugendamt besaß. Das wäre ein unverfänglicher Anknüpfungspunkt, überlegte Helga. Sie könnte sich nach einer Hausaufgabenbetreuung für schwache Schüler erkundigen! Am Freitag würde es gut passen, da hatten sie beide schon nach der fünften Stunde Schluss. Sie musste nur Acht geben, dass Beate ihr nicht entwischte.
Folglich schickte Helga ihre Schüler schon kurz vor dem Läuten hinaus und rannte dann mit ein paar Bildern in der Hand in die Pausenhalle. Hier musste jeder durch, der zum Ausgang wollte. Sie heftete die Kunstwerke der Kinder an die dafür bestimmte Holzleiste, während sie mit einem Auge immer wieder zur breiten Treppe schielte.
„Die sind aber schön geworden! In Anlehnung an Paul Klee, stimmt’s?”
„Stimmt.” Helga drehte sich um, als bemerkte sie die Kollegin erst jetzt. Beates Äußerung gab ihr die Möglichkeit, das Gespräch unauffällig fortzusetzen. „Die hier sind besonders gelungen, finde ich.” Sie deutete auf zwei Gemälde, die auffallend Klees kleinem Tannenbild ähnelten.
„Ganz toll. Deine Klasse?”
„Ulrikes. Hast du zufällig noch ein paar Reißzwecke ? Meine reichen nicht. Ich vergesse regelmäßig, welche zu kaufen.” Das entsprach nicht ganz der Wahrheit. Sie fand es einfach nicht richtig, dass sie Stifte, Klebstoff, Reißzwecke und ähnliches aus ihrer Tasche bezahlen sollte. Die Schule gab dafür kein Geld und es von den Eltern zu verlangen, fiel ihr schwer, da sie die schwierige finanzielle Situation der meisten Familien kannte.
„Doch, ich glaube schon, warte einen Moment, ich guck mal nach.” Weg war sie, hilfsbereit wie immer! Schon nach kurzer Zeit kehrte sie mit dem Gewünschten zurück.
„Hier, ich hoffe, es sind genug.”
„Danke! Sag mal, du kennst dich doch mit den Beratungsstellen aus. Gibt es da irgendwo eine kostenlose Hausaufgabenhilfe? In meiner Klasse sitzt ein kleiner Russlanddeutscher, sehr nett und fleißig, aber er braucht unbedingt Unterstützung.”
„Die kostenlose Hausaufgabenhilfe wurde von den meisten Vereinen eingestellt, es meldeten sich zu wenig Mütter, die bereit waren, auf ehrenamtlicher Basis zu arbeiten. Und das Geld ist überall knapp. Aber wenn du
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