Renner & Kersting 01 - Mordsliebe
hindeutete, dass sie es endlich geschafft hatte, sich von dem Mann zu lösen.
Helga brachte den Schlüssel zurück und stieg stolz auf ihren Erfolg ins Auto.
Am frühen Nachmittag saß sie am Schreibtisch. Immer wieder wanderten ihre Gedanken zu den Gesprächen, die sie heute Morgen geführt hatte. Einerseits freute sie sich, dass ihre Vermutungen durch Jörgs Aussage bestätigt worden waren, andererseits bangte sie um den Jungen. Hoffentlich würde er eines Tages genügend Energie aufbringen, den eigenen Weg zu finden. Seine Eltern besaßen die Möglichkeit, ihm eine unbeschwerte Kindheit zu schenken und taten es nicht. Warum nur ließen sie sich die Freude entgehen, die ein Kind geben konnte?
Nach der Unterhaltung mit Jörg hatte sie noch mit ein paar Schülern aus Frau Paukens’ Klasse gesprochen, der Kollegin, die auch gern im Westpark spazieren ging. Vorsichtig hatte sie sich nach der Lehrerin erkundigt und nur Positives erfahren. Ihr Gerechtigkeitssinn wurde ebenso gelobt wie die wenigen Hausaufgaben, die sie aufgab. Die meisten Kinder mochten sie, auch wenn der Unterricht manchmal langweilig war, ein paar beschwerten sich, dass sie bestimmte Mitschüler vorzog. Da diese Meinung von fast allen Kindern über fast alle Lehrer vertreten wurde, gab Helga nichts darauf. In der zweiten Pause, als sie Julia mal wieder von der Toilette vertreiben musste, hatte sie auf ihre diesbezügliche Frage erfahren, dass Vater Wohman sie schon häufiger auf der Straße angesprochen hatte. Später am Abend wollte sie herausfinden, an welcher der beiden Adressen der Kerl zu finden war.
An ihrer Wohnungstür klingelte es Sturm. Dankbar für die Unterbrechung schob sie die Schreibhefte beiseite.
„Was ist dir denn passiert? Wie siehst du aus?” Helga wich erschrocken zurück, als sie ihre Verbündete erblickte.
„Einen Stuhl, ich kann nicht mehr.” Jammernd wankte Ali durch den Flur ins Wohnzimmer und ließ sich schwer in den nächsten Sessel fallen. Das linke Auge zeigte eine Schwellung, die morgen in allen Farben schimmern würde, eine Wange war aufgeschürft, die Jacke verdreckt, die Haare hingen ihr wirr im Gesicht, die Strümpfe wiesen Löcher und Laufmaschen auf, und als sie die Hände ausstreckte, konnte Helga einen abgebrochenen Fingernagel sowie einen Bluterguss am Unterarm sehen.
„Du lieber Himmel, wo hast du dich rumgetrieben? Nein warte, sag nichts, ich hole erst mal ein Tuch zum Säubern, Jod und Pflaster.”
Als sie zurückkam, versuchte Ali ein Lächeln, das ziemlich kläglich ausfiel. „Ich wollte mich bei den Huren umhören, hab gedacht, am hellen Tag wäre das ungefährlich. Au, pass auf, das tut weh.”
„Geschieht dir recht, wie kann man nur so dumm sein. Ich habe dich gewarnt. Halt still, ich klebe ein Pflaster drauf. – So, fertig.” Helga erhob sich aus ihrer gebeugten Haltung und starrte von oben auf Ali hinunter. Sie grinste. „Morgen wird das Veilchen richtig leuchten. Du solltest eine Sonnenbrille aufsetzen, sonst denkt jeder, dein Mann habe dich verprügelt.”
„Quatsch, kein Mensch, der Herbert kennt, würde so etwas denken. Ach so.” Sie begriff erst, als Helga lauthals lachte.
„Kaffee oder Schnaps?”
„Beides! Und von beidem eine ordentliche Portion.”
Helga füllte zwei Gläser mit Kirschwasser.
„Auf deine Gesundheit – und jetzt erzähle, aber ganz von vorn.”
„Ich glaube, ich war etwas blauäugig, hab gedacht, ich käme mit meiner kirchlichen Besuchermasche auch bei den ›Damen‹ an.” Helga staunte noch über Alis Selbsterkenntnis, als diese schon weiter sprach. „Und es hätte funktioniert, ganz sicher, wäre nicht dieser Schlägertyp aufgetaucht.” Urplötzlich begann Ali zu kichern. „Weißt du, wenn du erzählst, du kämst von der Kirche, und dir stünde Geld für Sozialfälle zur Verfügung, dann werden sie alle habgierig, und den kirchlichen Mitarbeitern wird jede Naivität verziehen, im Gegenteil, sie wird sogar erwartet.”
„Aber anscheinend nicht von allen!”
„Das war Pech. Lembert passt auf seine Mädchen auf, dass die nicht mit jedem reden.”
„Sag bloß, es war der große Eddi selbst, der dich verprügelt hat?”
„Unsinn, der macht sich doch nicht die Hände schmutzig, dafür hat der seine Handlanger … Oh Mann, das brennt! Was hast du mir da bloß draufgeschmiert?”
„Etwas zum Desinfizieren. Erzähl weiter!”
„Nicht ohne innere Desinfizierung.” Auffordernd hielt sie ihr Glas hoch, und Helga kam dem Wunsch
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