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Renner & Kersting 02 - Mordswut

Renner & Kersting 02 - Mordswut

Titel: Renner & Kersting 02 - Mordswut
Autoren: Angelika Schroeder
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Diagnosemöglichkeiten, die behinderte Kinder rechtzeitig erkennen ließen. Doch so sehr Helga ihn liebte, dazu war sie nicht bereit. Sie spürte es jeden Morgen in der Schule, wie ihre Kräfte allmählich schwanden. Die Geduld und die Energie, wenigstens achtzehn Jahre für ein Kind dazusein, es zu lieben, ihm Grenzen aufzuzeigen und auf deren Einhaltung zu achten, sich mit ihm auseinander zu setzen, wenn es größer wurde, Trotzphase und Pubertät durchzustehen, nein, die Energie besaß sie nicht mehr.
    Natürlich war es schön, so ein kleines Wesen um sich zu haben. Besonders im ersten Schuljahr kamen häufig Schüler zu den Lehrerinnen, um gedrückt oder gestreichelt zu werden. Mit Vergnügen erinnerte sie sich an Timo, der in den Frühstückspausen auf ihren Schoß geklettert war, ihr einen Schmatz auf die Wange gedrückt und dann ins Ohr geflüstert hatte: „Wenn ich groß bin, heirat ich dir.« Ihr genügten diese flüchtigen Kontakte. Es war nicht nur die Verantwortung, die sie scheute, sie brauchte einfach die Ruhe, die sie mittags in ihrer Wohnung erwartete. Die vielen Jahre in der Schule hatten ihren Tribut gefordert, und sie zahlte immer noch. Für sie war der Zug abgefahren. Für Klaus nicht. Er konnte noch aufspringen. Doch das bedeutete Trennung. Wenn sie daran dachte, wurde ihr ganz elend. Früher einmal hatte sie über Liebeskummer gelacht. Eine vorübergehende Unpässlichkeit, so hatte sie ihn genannt. Für ihre damaligen Beziehungen traf diese Beschreibung durchaus zu. Gleichgültig, wer den Schlussstrich gezogen hatte, war eine Trennung immer mit Schmerz verbunden, doch meistens hatte ihr Stolz ihr geholfen, ihn zu überwinden. Niemals wollte sie von einem Mann abhängig sein. Aber mit Klaus war es anders. Sie konnte sich ein Leben ohne ihn gar nicht mehr vorstellen. Sie hatte sich an seine späten Anrufe gewöhnt, an die spontanen Verabredungen, wenn er Zeit hatte. Es gab kaum ein Thema, über das sie mit ihm nicht reden konnte. Über Religion oder Philosophie unterhielt er sich ebenso gern wie über asiatische Kochrezepte. Auch dann, wenn ihre Ansichten nicht übereinstimmten, akzeptierte er ihre Meinung. Er war der Mann, mit dem sie den Rest ihres Lebens verbringen wollte. Doch sie wusste auch, dass sie ihn nicht würde halten können, wenn er sich denn für ein Kind entschied. Bedrückt starrte sie aus dem Fenster, ohne etwas zu sehen. Am liebsten hätte sie sich in eine Ecke verkrochen. Bei dem Gedanken an Trennung schmerzte ihr ganzer Körper, ohne dass sie den Schmerz hätte lokalisieren können. Sie fror. Die Kälte kam von innen. Da nutzte es auch nichts, dass sie die Heizkörper aufdrehte. Sie schaltete das Radio aus, holte sich eine warme Decke und legte sich aufs Sofa.
    Doch Ruhe war ihr nicht vergönnt, das Telefon klingelte erneut. Diesmal rief Elli an und fragte, ob sie den Lokalsender gehört habe. Das Gespräch dauerte nicht lange, und Helga atmete auf, als sie sich wieder hinlegen konnte. Die nächsten Male nahm sie den Hörer nicht mehr ab. Sie wollte weder mit Kollegen über die Nachricht noch mit Eltern über deren Kinder reden. Sie wollte allein sein mit ihrem Kummer.
     

6
    Bei Schulbeginn am nächsten Morgen wussten alle Kollegen Bescheid. Am Abend zuvor hatte es noch einen kurzen Bericht in der Aktuellen Stunde gegeben, heute stand die Bluttat groß in Westfalenpost und Rundschau. Niemand dachte an die Kinder, die auf dem Schulhof froren und darauf warteten, hereingeholt zu werden. Alle drängten sich um Raesfeld, der scheinbar als einziger mit der Polizei telefoniert hatte. Elli warf Helga zwar einen deutlich fragenden Blick zu, sagte aber nichts. Sie wusste von Helgas Beziehung zu einem Kriminalbeamten und erwartete offensichtlich brühwarme Neuigkeiten, die Helga nicht geben konnte, selbst wenn sie gewollt hätte. „Frau Michalsen wird vorläufig nicht wiederkommen. Sie liegt derzeit mit Schock im Krankenhaus.« Fast jeder murmelte ein paar verständnisvolle Worte.
    „In welchem? Wir sollten sie besuchen«, meinte Angela Steinhofer mitleidig. „Soweit ich weiß, hat sie keine Verwandten in der Stadt. Sie hat sich doch nur wegen Kowenius hierher versetzen lassen. Wir müssen uns um sie kümmern.« Angela zeigte stets Mitgefühl. Das war schon so gewesen, bevor alle wussten, wie sehr auch Angela das Verständnis ihrer Kollegen brauchte. Als bekannt wurde, dass sie mit einer Freundin zusammen lebte, hatten längst nicht alle die gewünschte Toleranz gezeigt. Doch
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