Renner & Kersting 02 - Mordswut
Wartezimmer. Nein, zu viel Arbeit, da jedes Mal hineinzugreifen. Der Ort muss leicht erreichbar sein. Vielleicht unter der Schreibtischunterlage. Da würde ein flacher Schlüssel nicht auffallen.« Ali nahm alle Unterlagen hoch. Nichts.
Systematisch begannen sie, den Empfangsraum zu durchsuchen, schauten in und unter die Papierkörbe, hoben Stühle, Kissen und Tischbeine an. „Verdammt, es wird bald dämmrig, und wir dürfen kein Licht machen. Wenn wir nicht schnellstens was finden, breche ich die Schreibtische auf. Sollen sie doch Anzeige erstatten.«
„Und unsere Fingerabdrücke? Das geht entschieden zu weit. Gewalt werde ich nicht anwenden.«
„Ach du Scheiße«, Ali kicherte, und Helga stellte fest, dass deren Sprache sich der ihrer Töchter anpasste. Früher hätte sie das Wort nicht in den Mund genommen. „Einbrechen tust du, aber den Bruch dann auch zu einem sinnvollen Ende bringen, das schaffst du nicht. Dafür bist du zu ehrbar. Los, streng dich an. Wo würdest du einen Schlüssel verstecken?«
Helga starrte auf ihre nackten Hände.
„Nun mach dir mal keine Gedanken wegen der Fingerabdrücke. Unsere sind nirgendwo gespeichert. Und bevor der Verdacht auf uns fällt ... also da fließt noch viel Wasser die Volme runter. Wir sind schließlich rechtschaffene Frauen, die keinen Grund haben, irgendwo einzubrechen.«
Wo Ali Recht hatte, hatte sie Recht. Helga ließ ihren Blick nochmals schweifen. Es gab einen Stahlschrank mit Sicherheitsschloss und einen einfachen Holzschrank. Der Stahlschrank enthielt sicher die Patientenakten. Aber der alte Holzschrank? Der ließ sich problemlos öffnen. Kaffee, Teller, Tassen, Zeitungen, Prospekte, ein paar Ordner, eine Kekstüte, Kugelschreiber, Stempelkissen und dergleichen mehr standen in kunterbunter Vielfalt nebeneinander. Helga untersuchte sofort die Tassen – und stieß einen leisen Schrei aus. In einer lagen mehrere Schlüssel.
Es wurde aber auch höchste Zeit, die Dämmerung setzte bereits ein. Ali schnappte sich die Dinger, untersuchte sie fachkundig und fand schnell etwas Passendes. Sie schloss die erste Schublade auf und reichte Helga die restlichen Schlüssel.
„Hier, probier es bei den anderen. Was nützt uns der Terminkalender, wenn wir ihn nicht mehr lesen können? An eine Taschenlampe habe ich nicht gedacht, und Licht dürfen wir nicht machen. Das würde wirklich auffallen.«
„Im Flur?«
„Nur im Notfall.«
Helga wusste, wie das große Buch mit den Terminen aussah. Jetzt hatte das Jagdfieber sie gepackt. Flüchtig wühlte sie die Schubladen durch. In der vierten wurde sie fündig. Ali mühte sich mit dem Stahlschrank ab.
„Ich hab’s!«, schrie Helga. „Welches Datum? Welche Zeit?«
„Zweiter Oktober, fünfzehn Uhr zwanzig.«
Helga ging mit der Kladde ans Fenster. „Hast du was zu schreiben? Wir sollten uns alle Namen notieren, die kurz vorher einen Termin hatten. Um ganz sicher zu gehen. Also um drei Frau Königs, dann Frau Panowitsch und anschließend Frau Schwabel wie Schnabel mit w.«
„Die Schwabel ist meine Nachbarin. Hat der erst um drei wieder angefangen?«
„Ja, der Bergedorf schon um halb drei. Hier sind zwei Spalten, einmal Bergedorf, einmal Kowenius. Die Männer brauchen wir nicht zu notieren, denke ich. Das war’s dann. Schließ alles wieder ab. Und dann nichts wie weg.«
„Heh, warte mal. Dies muss der Schreibtisch der Hellwitz sein. Du, hier liegt ein Brief mit Kostenvoranschlag für eine Schönheits-OP.«
„Na und?«
„Was hat der hier zu suchen? Würdest du so einen Brief etwa im Lehrerzimmer liegen lassen? Ich werde ihn vorsichtshalber kopieren. Wegnehmen geht nicht, aber die sind ja prima ausgerüstet hier.« Ali warf den Kopierer an und trat ungeduldig von einem Fuß auf den anderen, bis er endlich warm gelaufen war. Es dunkelte immer schneller. Draußen leuchtete eine Straßenlaterne auf. Ali kopierte Kostenvoranschlag und Begleitschreiben, dann räumte sie sorgfältig alles weg. Die Schlüssel kamen wieder in die Tasse. „Verflixt, stand die Tasse rechts oder links?«
„Ist doch egal«, rief Helga. „Ich will weg hier.«
„Wenn die so ein eingespieltes Team sind, wie wir damals waren, dann wissen die ganz genau, wo die Tasse mit den Schlüsseln zu stehen hat. Links, glaube ich und darüber eine leere Tasse.«
„Mach die Tür zu und dann los.«
Helga war nervös. Nun, da sie hatten, was sie wollten, ließ die Spannung nach, und die Angst vor Entdeckung schlug mit aller Macht zu. Ihr Herz
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