Renner & Kersting 02 - Mordswut
sie, dass ihre Hoffnung wieder einmal vergeblich gewesen war. Trotz des schönen Wetters hatten die meisten Schüler das Wochenende entweder vor dem Fernseher oder mit diversen Computerspielen verbracht. Während des Erzählens wetteiferten sie, wer den blutigsten Film gesehen oder den höchsten Level diverser Spiele erreicht hatte, wobei die Diskussionen stets in Schreierei ausarteten. Niemand konnte mehr zuhören, den anderen ausreden lassen oder einfach nur in normaler Lautstärke sprechen. Stets musste der Nachbar übertrumpft werden, möglichst noch, bevor er seine Erzählung beendet hatte.
Und auch während des Unterrichts wurde es kaum leiser. Viele hatten nicht zugehört und fragten nun lautstark ihre Nachbarn, was sie denn tun sollten und wie das ginge. Erst als alle Schüler ihre Hefte und Bücher aufgeschlagen hatten, jeder genau wusste, welche Aufgaben zu rechnen waren, atmete Helga zum ersten Mal an diesem Vormittag auf. Nach einem erfolglosen Versuch durch die Reihen zu gehen, zu schauen und zu helfen, blieb sie vorn stehen, wo sie jedes Kind im Auge behalten konnte, und fühlte sich wie ein Dompteur im Käfig. Sie hatte nichts gegen eine kreative Unruhe, ganz im Gegenteil, sie freute sich, wenn die Kinder einander halfen, doch die Gesprächsfetzen, die zu ihr drangen, drehten sich keinesfalls um Mathematik. Teils waren es Beschimpfungen in schlimmster Fäkalsprache, teils ging es um Horrorfilme, die nachts gelaufen waren. Und Helga fragte sich wieder einmal, ob die Eltern mitgeschaut hatten oder gar nicht wussten, was ihre Sprösslinge trieben. Die meisten besaßen eh ihren eigenen Fernseher.
Nach der ersten Doppelstunde sehnte die Lehrerin sich nach einer Pause und einem aufmunternden Kaffee. Doch kaum hatte sie ihre Tasse gefüllt, erschien Raesfeld und bat sie ins Rektorzimmer.
„Was ist denn los?« Helga dachte, es ginge um die Michalsen.
„Können Sie sich das nicht denken? Heute kam ein Fax vom Schulamt.«
„Und?«
Sie musste wohl ein ziemlich dummes Gesicht gemacht haben.
„Es tut mir ja auch Leid, aber ...« Er zögerte, schaute sie an, blickte zum Fenster. Warum kam er nicht endlich auf den Punkt? Schließlich drehte er sich ihr wieder zu.
„Ich möchte Bescheid wissen, wenn etwas so Gravierendes wie eine Vergewaltigung an der Schule passiert. Warum haben Sie mir nichts gesagt?«
„Frau Zenker hat mich am Donnerstagnachmittag informiert, und am Freitag hatten Sie so viel zu tun, dass ich nicht auch noch stören wollte. Außerdem betrifft es die Schule nur indirekt. Es geschah am Nachmittag, und die Täter besuchen das Gymnasium.«
„Wovon reden Sie? Der Täter besucht Ihre Klasse. Und Sie haben nichts unternommen. Die Eltern haben sich beim Schulamt massiv über Sie beschwert. Hier, schauen Sie!« Er reichte ihr ein Fax hinüber. Helga brauchte nicht hinzusehen, um zu wissen, worum es ging. Sie stöhnte laut und demonstrativ.
„Die Sache wäre längst erledigt, wenn der Lebensgefährte der Mutter nicht so ein Theater machen würde. Ich habe mit Frau Stellmann über die Sache gesprochen. Es hat keine, ich wiederhole keine Vergewaltigung stattgefunden. Natürlich ist Niklas ein frecher Bengel, und ich habe ihn mir entsprechend zur Brust genommen, aber er war neugierig und hat das Mädchen geärgert. Anders hat Pia-Maria es auch nicht gesehen. Fragen Sie Frau Stellmann. Die muss es als Klassenlehrerin schließlich wissen. Und nur, weil dieser blöde Kerl seiner Freundin beweisen will, was für ein toller Hecht er ist, macht er auf dem Schulamt den großen Macker. Und die fallen auch noch darauf rein! Dabei ist er nicht einmal erziehungsberechtigt! Quatsch ist das Ganze! Horrender Blödsinn! Ich habe ein Mädchen in der Klasse, dem wirklich Gewalt angetan wurde, die Nele Zenker. Um die muss ich mich kümmern, da habe ich für so einen Scheiß keine Zeit!« Sie hatte sich in Wut geredet und knallte das Fax vom Schulamt auf den Tisch.
„Tja, selbst wenn Sie Recht hätten, was noch nicht bewiesen ist, müssen Sie einen Bericht schreiben. Da kommen Sie nicht drum herum. Ausführlich und in Absprache mit Frau Stellmann. Schließlich muss der Schulrat informiert sein, um Stellung beziehen zu können.«
„Das dürfen Sie mir nicht antun! Ich habe mit den wirklichen Problemfällen genug Arbeit, dazu zwei Klassen, die beide nicht einfach sind und jetzt noch ein Bericht? Kann ich nicht einfach anrufen?«
„Tut mir Leid, nein. Schauen Sie sich das Fax an.« Damit schob er sie sanft
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