Renner & Kersting 02 - Mordswut
aber nachdrücklich aus seinem Zimmer.
Helga kochte. Was bildete der verdammte Lebensabschnittsvater sich ein? Nur wegen seines männlichen Imponiergehabes konnte sie sich heute Nachmittag hinsetzen und einen Bericht schreiben. Mit rotem Gesicht kam sie ins Lehrerzimmer, wo sie sofort neugierig angestarrt wurde. Ohne Hemmungen machte sie ihrer Wut Luft. „Ich hätte ja Verständnis, wenn tatsächlich etwas passiert wäre, aber es war nichts, ein dummer Jungenstreich, mehr nicht! Es ist eine bodenlose Unverschämtheit, von einer Vergewaltigung zu sprechen und deswegen so einen Wirbel zu veranstalten. Als ob es nicht genug Arbeit gäbe. Frau Stellmann, Sie dürfen gleichfalls einen Bericht schreiben. Hier!« Sie warf das Fax auf den Tisch.
„Nun«, Linda Kolczewski gab sich versöhnlich. „Es ist doch nur gut, dass die Eltern sich sorgen und das Schulamt ebenfalls einschreitet. Wir sollten froh sein darüber.«
Fassungslos starrte Helga die junge Kollegin an, die wieder einmal alle negativen Vorurteile bestätigte, die Helga von ihr hatte. Unbeschwert redete sie weiter. „Sonst schimpfen wir immer über die Eltern, die sich nicht um ihre Kinder kümmern, und jetzt bemühen sich einmal welche, jetzt ist es Ihnen auch nicht recht.«
„Sie haben offensichtlich nichts begriffen«, sagte Helga ätzend und versuchte gar nicht erst, die Verachtung aus ihrer Stimme zu verbannen. „Es gibt nichts zu kümmern, es ist nämlich nichts passiert.«
„Nun ja, wenn es auch keine Vergewaltigung war, aber ein sexueller Missbrauch war es schon.«
„Unsinn! Sie hat nicht mal die Unterhose ausgezogen«, mischte Frau Meierfeld sich ein.
„Trotzdem. Der Missbrauch beginnt bereits dort, wo ein Mensch ausgenutzt wird, um die Bedürfnisse eines anderen zu befriedigen.«
„Ah ja, und Niklas’ Bedürfnis war die Befriedigung seiner Neugier!« Frau Meierfeld, die gerade ihre zweite Prüfung abgelegt hatte, schaute die Kolczewski mit der ganzen unbekümmerten Sicherheit, die sie ihrer Jugend und Unerfahrenheit verdankte, an.
„Meine liebe Frau Meierfeld«, Linda Kolczewskis herablassende Stimmte verriet, wie wenig sie von der jungen Kollegin hielt. „Bevor Sie irgendwelche Statements abgeben, sollten Sie sich informieren. Es hängt immer von der Intention des Täters ab, ob sexueller Missbrauch vorliegt. Ich denke, diese ist im vorliegenden Fall eindeutig.«
„Quatsch!«, mischte Frau Stellmann sich ein. „Ich habe lange mit dem Mädchen gesprochen. Sie hat es als ärgern empfunden, nicht mehr. Die Mutter schien auch ganz vernünftig zu sein. Sie war meiner Meinung, nämlich dass es besser ist, die Sache nicht überzubewerten. Allein der Freund der Mutter spricht von Vergewaltigung, und damit tun sie dem Kind keinen Gefallen. Bis dato hatte die Kleine nämlich keine Angst, auch nicht vor den größeren Jungen, obwohl die sie schon häufiger geärgert haben. Erst jetzt hat Pia-Maria richtig Angst bekommen. Sie weint, will nicht in die Pause und nicht allein nach Hause. Die Mutter oder ihr Freund holen sie regelmäßig ab. Und diese Angst wurde nicht durch den Vorfall hervorgerufen, sondern durch das unnormale Verhalten des Stiefvaters. Und im Übrigen«, fuhr sie laut und deutlich fort, „was erwarten die Leute und das Schulamt eigentlich von Frau Renner? Der Bengel ist nicht strafmündig, er hat ein Recht auf Schulbesuch, so dass wir ihn weder anzeigen noch einfach vom Unterricht ausschließen können. Mehr als mit ihm und den Eltern reden ist nicht drin – wir können jedenfalls nicht mehr tun. Abgesehen davon, dass das Ganze nicht einmal während der Schulzeit passiert ist.«
„Es ist ja nicht nur das«, stöhnte Helga und berichtete von Frau Zenker, die mit ihrem Problem ganz allein da stand. Niemand hatte sie beraten, niemand fühlte sich verantwortlich, der alleinerziehenden Mutter zu helfen. „Nele wurde Gewalt angetan. Zu dritt sind sie über das arme Mädchen hergefallen. Keiner hat geholfen, weder die anderen Jugendlichen, die sich da aufhielten noch später die Polizei. Am Donnerstag hatte ich die arme Frau fast eine Stunde am Telefon, sie war mit den Nerven am Ende. Ich hab ihr die Anschrift vom Kinderschutzbund und vom weißen Ring gegeben, vielleicht können die etwas tun. Bei der Suche nach einem Therapieplatz helfen, einen Anwalt engagieren, der die Rechte des Kindes vertritt und so weiter.«
„Lars Laboda? Der Name kommt mir bekannt vor. War der nicht mal bei uns?«
Frau Schnoor nickte bestätigend.
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