Renner & Kersting 02 - Mordswut
Sie war die Dienstälteste und kannte sich aus. „Er war damals schon unverschämt und unerzogen.«
„Aber so etwas? Und dann mit vierzehn Jahren! Und die anderen beiden sind erst – wie alt? Dreizehn? Was wird ihnen passieren?«, erkundigte sich Frau Meierfeld.
„Den beiden jüngeren gar nichts, die sind nicht strafmündig und dem älteren ...?« Helga hob die Schultern. „Nach meinen bisherigen Erfahrungen habe ich wenig Vertrauen in unser System.«
„Nun, immerhin ist er noch ein Kind. Da darf man nicht zu streng sein.« Das war natürlich die stets verständnisvolle Angela Steinhofer.
„Nicht so streng?« Jetzt wurde Frau Stellmann böse. „Der Junge hat sie tatsächlich vergewaltigt, ihr nicht nur befohlen, die Hose auszuziehen wie in Pia-Marias Fall. Das ist ein Unterschied! Und wenn der nicht nachhaltig bestraft wird, wer weiß, was aus dem Früchtchen wird. Mit vierzehn hat jeder zu wissen, was man darf und was nicht. Da ist die Erziehung doch fast abgeschlossen.«
„Wusstet ihr, dass ein Drittel aller Missbrauchstaten von Jugendlichen begangen werden?«, fragte Elli Goppel.
„Und? Was willst du damit sagen?« Volker Reiser, der einzige männliche Kollege, schaute neugierig zu Elli.
Die zuckte die Schultern. „Ich weiß nicht. Es macht einfach nachdenklich. Vielleicht ist es ja falsch, die Kinder so früh und so gründlich aufzuklären? Vielleicht machen wir sie dadurch erst recht neugierig? Und anfällig für bestimmte Artikel in Jugendzeitschriften, wo es heißt: Hilfe, ich bin mit dreizehn noch Jungfrau. Was kann ich tun? Diese getürkten Leserbriefe zeigen unseren Kindern, was scheinbar heutzutage Norm ist. Die Kinder, und mit dreizehn sind sie noch Kinder, glauben den Blödsinn und versuchen, den ›unnormalen‹ Zustand so schnell wie möglich zu beenden.« Elli klang sehr bitter. Doch ungewohnt nachdenklich fügte sie hinzu: „Oder bin ich einfach nur konservativ und altmodisch?«
Helga grinste. Elli war alles andere als altmodisch. Auch wenn sie ihre Abneigung gegen Computer so sehr kultiviert hatte, dass sie ihre Zeugnisse noch mit der Hand schrieb. Aber was Unterricht anging, war sie methodisch und didaktisch stets auf dem neuesten Stand, und seltsamerweise besuchte sie mit ihren Schülern sogar den Computerraum, um Informationen aus dem Internet zu holen.
„Nein!« Frau Vobitz, die selbst eine Tochter in dem Alter hatte, mischte sich unerwartet heftig ein. „In unserer Gesellschaft spielt Sex eine dermaßen wichtige Rolle, dass wir Kinder nur durch Aufklärung schützen können. Schaut euch die Nachmittagsserien im Fernsehen an oder die sogenannten Jugendzeitschriften. Natürlich wird durch Aufklärung auch die Neugier angestachelt, aber das lässt sich nun mal nicht verhindern.«
Elli hatte ihre nachdenkliche Phase schnell überwunden. Vehement fuhr sie fort: „Noch nie hatten Kinder so viele Rechte, sie dürfen sogar ihre Eltern anzeigen, wenn die sie schlagen! Auf der anderen Seite gibt es immer mehr Eltern, die ihre Kinder als benutzbaren Besitz ansehen, den sie emotional und sexuell ausbeuten können.«
Dabei bilden Kinder angeblich das größte Kapital einer Gesellschaft. Aber um Kapital muss man sich in der rechten Weise kümmern, es will betreut und beschützt werden. Sonst ist eines Tages nichts mehr da. Kinder dagegen werden viel zu oft allein gelassen. Wo ist die Lobby, die dafür sorgt, dass sie betreut und beschützt werden? Kein Plutokrat würde mit seinen Geldanlagen so umspringen wie viele Eltern mit ihren Kindern. In dieser Beziehung sind die angeblichen Hoffnungsträger der Nation jeder Kapitalanlage unterlegen. Helga schüttelte den Kopf, als könnte sie so die bitteren Gedanken vertreiben.
Inzwischen schimpfte Kollegin Kolczewski über das Männlichkeitsideal, das immer noch in Filmen, Zeitschriften und Werbung dargestellt wird. Wer häufig wechselnden Sexualkontakt hat, gilt als toller Hecht, als Eroberer, der sich nimmt, was er will. „Ihr braucht nur mal bei den Schlagern genauer hinhören. In Santa Maria wird ein Mädchen von einem Touristen entjungfert, der sie anschließend sitzen lässt. Ein Lied für die schon ältere Generation, aber auch die findet so etwas großartig.«
„Ist doch ’ne olle Kamelle!« Es war nicht klar, ob Angela Steinhofer den alten Schlager meinte, oder die Tatsache, dass sich niemand über derartige Texte aufregte.
„Und harmlos im Vergleich zu dem, was die aktuellen Rapper von sich geben. Habt ihr da mal
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