Renner & Kersting 03 - Mordsgier
konnte, aber immer noch mit starkem Akzent sprach. Während sie auf den Lehrer warteten, hatten sie sich kurz miteinander unterhalten. Nichts Wichtiges. Ein wenig Smalltalk über die Kinder und die Ergebnisse der letzten Arbeiten. Später, während der Diskussionen hatte die Frau sich nie zu Wort gemeldet. Ali vermochte nicht zu beurteilen, ob sie immer alles verstanden hatte. Lucia war hier geboren und aufgewachsen, kannte keine Sprachprobleme und hatte Franziska häufig besucht. Ali gefiel das Mädchen. Sie zeigte eine respektvolle Höflichkeit, an der es vielen Jugendlichen oft mangelte. Außerdem wusste sie genau, was sie wollte, war zielstrebig und im Gegensatz zu Franziska auch ehrgeizig, weshalb Ali die Freundschaft stets unterstützt hatte. Lucia hatte Franziska häufiger bei den Matheaufgaben geholfen, wofür Franziska sich revanchierte, indem sie das Mädchen zu diversen Feiern mitnahm. Lucia gehörte zu den Außenseitern der Klasse. Nicht nur, weil sie oft kränkelte. Ihre Eltern hatten ihr verboten, die Partys ihrer Mitschülerinnen zu besuchen, da sie Angst vor Alkoholkonsum und Drogen hatten. Doch Franziska akzeptierten sie, und Ali hatte nie so genau gefragt, wie die Zwei es immer wieder schafften, dass das Mädchen an den Wochenenden abends länger fortbleiben durfte. Ali wusste, dass sie Franziska vertrauen konnte. Immer noch?, fragte die leise Stimme des Gewissens. Oder hatte sich in letzter Zeit nicht doch etwas verändert?
Energisch drückte sie den Glimmstängel aus. Nein, beruhigte sie sich selbst, nichts hatte sich verändert, sonst hätte Franziska ihr die Geschichte mit Lucia nicht erzählt. Es herrschte noch immer dasselbe Vertrauen zwischen ihnen wie eh und je. Also, was sollte sie in Bezug auf Lucia tun? Obwohl beide Mädchen sich häufig trafen, kannte Ali den Vater nicht. Sie musste unbedingt das italienische Restaurant der Pasquales besuchen, überlegte sie. Ob sie Helga mitnehmen sollte? Als Lehrerin konnte sie manches besser beurteilen, außerdem verfügte sie über gute Menschenkenntnis. Andererseits würde der Mann wohl eher reden, wenn es keine Zeugen gab. Folglich beschloss Ali, Nägel mit Köpfen zu machen und gleich heute Abend essen zu gehen. Ihr Blick fiel auf den Terminkalender. Eigentlich wäre sie an diesem Wochenende wieder mit dem Kindergottesdienst an der Reihe und müsste heute Abend zum Vorbereitungstreffen. Sie zögerte den Bruchteil einer Sekunde. Dann hatte sie ihre Entscheidung getroffen. Franziska und ihre Freundin besaßen Vorrang. Bevor sie ihre Meinung wieder änderte, griff sie zum Telefon, um ihre Teilnahme sowohl am heutigen Treffen als auch am Sonntag in der Kirche abzusagen. Nachdem das erledigt war, fühlte sie sich wohler und zündete mit ruhiger Hand eine weitere Zigarette an, deren Rauch sie langsam und genussvoll einsog.
Während sie noch überlegte, wie sie Herrn Pasquale unauffällig in ein Gespräch über ihre Töchter verwickeln konnte, stürzte Veronika herein. »Ich bin fertig. Ich gehe.«
»Stopp! Erst will ich deine Aufgaben sehen!«
Der überraschte Blick ihrer Tochter gab ihr zu denken. Wie lange schon hatte sie sich nicht mehr für die Schulaufgaben interessiert! Man klopfte sich an die Brust, sagte ›mea culpa‹, wenn die Klassenarbeit des Kindes mal wieder daneben gegangen war, und alle Gewissensbisse verschwanden wie weggezaubert. Doch dem Kind war damit nicht geholfen. Sie überlegte. Was hatte Helga gesagt, sollte sie mit Veronika üben? Als sie die vielen Fehler in Veronikas Matheheft sah, wurde ihr fast übel. Höchste Zeit, sich zu kümmern. »Das musst du noch einmal machen. Ich helfe dir.«
Veronika schimpfte, sehr laut, sehr deutlich. Als das nichts half, begann sie zu schluchzen, dicke Tränen flossen. Heute ließ ihre Mutter sich nicht erweichen. Sie blieb neben ihrer Tochter sitzen, bis die letzte Aufgabe richtig gerechnet war. Franziska hatte das Haus bereits verlassen, als endlich auch Veronika zu ihrer Freundin durfte. Beide, Mutter und Tochter stießen Seufzer der Erleichterung aus. So lernunwillig und widerspenstig kannte Ali ihre Veronika nicht. Bevor sie jedoch weiter über deren Verhalten nachdenken konnte, meldete sich ihr Nikotinspiegel. Im Kinderzimmer hatte sie schweren Herzens aufs Rauchen verzichtet, doch eine Stunde ohne Zigarette glich einer Tortur, weshalb sie ihrer Sucht jetzt schnellstens nachgab.
Ein Blick zur Uhr. Kurz nach vier. Es war noch nicht zu spät, um bei Daniela Wohlfang vorbeizuschauen.
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