Renner & Kersting 03 - Mordsgier
Er zögerte, überlegte. »Ich könnte morgen Nachmittag kurz vorbeifahren. Mit etwas Glück ist sie allein im Haus. Ich sag’ ihr, sie soll gegen fünfzehn Uhr an der Bushaltestelle stehen. Dort kannst du sie abholen, einverstanden?«
»Ja gut.«
Nachdem das geklärt, die letzten Toastkrümel zusammengekratzt und das Geschirr in die Spüle gestellt worden war, erhob sich die Frage nach dem weiteren Verlauf des Abends. Auf Kino oder Kneipe hatten beide keine Lust. Also blieb nur Tagesschau oder kuscheln. »Warum nicht beides gleichzeitig?«, schlug er in seiner praktischen Art vor. Sie nahmen ihre Weingläser sowie eine neue Flasche und gingen hinüber ins Wohnzimmer.
Sein Strauß stand auf der Anrichte, ein anderer, schon leicht angewelkter auf dem Boden. In der trüben Jahreszeit konnte sie nicht genug Blumen um sich haben. Tulpen waren für sie Boten des Frühlings, die sie allerdings vor dem Jahreswechsel nicht sehen mochte. Er dachte daran, wie sie ihn angestarrt hatte, als er kurz vor Heiligabend mit einem Strauß aufgetaucht war. Sie hatte nichts gesagt, aber ihr Gesicht sprach Bände. Meistens liebte er ihre altmodischen Ansichten, ihr bedeuteten die Jahreszeiten noch etwas. Niemals würde sie im Winter frische Erdbeeren kaufen, so wenig wie sie im Sommer Sauerkraut oder Grünkohl kochen würde. Er wünschte, sie würde in Bezug auf Familie und Kinder genauso altmodisch denken.
Zärtlich umfasste er sie und zog sie an sich. Von den Nachrichten bekamen beide nicht allzu viel mit. Ein Attentat in Israel wie schon fast üblich, langweiliges Politikergeschwätz, ein möglicher Streik. Solange er Helga im Arm hielt, konnte seinetwegen die Welt untergehen. Und sie schien ähnlich zu empfinden. Einmal richtete sie sich kurz auf, als wollte sie etwas verfolgen, doch gleich darauf murmelte sie nur »Schwachsinn!« und sank zurück. Er fuhr mit seinen Lippen über ihren Hals, was bei ihr ein angenehmes Kribbeln auslöste. Mit einer Hand öffnete sie nacheinander die Knöpfe an seinem Hemd. Der anschließende Film flimmerte unbeachtet über den Bildschirm.
»Hm?«, fragte sie und glitt mit ihren Fingern tiefer.
»Hm!«, bestätigte er, stand auf und trug sie ins Schlafzimmer hinüber.
Helga erwachte am nächsten Morgen vom Rauschen der Dusche. »Musst du etwa ins Büro?«, fragte sie, als er mit nassen Haaren und einem Handtuch bekleidet ins Schlafzimmer kam.
»Du weißt doch, wie das bei ungelösten Fällen ist. Heute Morgen kommen noch ein paar Schüler zur Vernehmung und ein Vater, der noch Reste des Giftes im Keller lagern soll. Behauptet jedenfalls seine Nachbarin.«
»Du klingst zweifelnd. Habt ihr den Keller denn nicht durchsucht?«
»Ohne sein Einverständnis geht das nicht, und einen richterlichen Beschluss gibt es nicht ohne schwerwiegende Verdachtsmomente«, sagte er und stieg in seine Hosen. Helga lag noch im Bett und schaute zu. Eigentlich hatte sie keine Lust, so früh aufzustehen. Wochenende bedeutete für sie lange schlafen, lange am Frühstückstisch sitzen und ausführlich die Zeitung lesen. Sie gehörte zu den Morgenmuffeln. Noch einmal gähnen, strecken und recken, dann überwand sie sich und sprang aus dem Bett. Während sie in der Küche den Tisch deckte, lief er zum Bäcker um die Ecke und besorgte frische Brötchen.
Im Grunde hatte sie etwas mehr über die Ermittlungen im Fall Wohlfang erfahren wollen, fiel ihr ein, als sie sich gegenübersaßen. Das hatte sie gestern Abend doch tatsächlich vergessen.
»Die Schüler, die du verhören willst, gehören die zur Oberstufe?« Ob ihm schon jemand von Robert Banken erzählt hatte? Einerseits quälte sie ein schlechtes Gewissen, andererseits verspürte sie große Neugier und ein unbändiges Verlangen, wieder einmal etwas zu tun, das nicht zum Schulalltag gehörte. Durch ihre Aktivitäten im letzen Fall hatte sie vieles erfahren, was ihr in der Schule half, geduldiger und langmütiger zu werden. Nur zu wissen, dass manche Kinder ein schlimmes Zuhause haben ist etwas ganz anderes als in der verschmutzten Küche zu stehen, die Schnapsflaschen zu sehen und den Alkoholdunst zu riechen. Sie beschloss, erst noch ein wenig zu schnüffeln, bevor sie Klaus informierte.
»Natürlich. Der Wohlfang scheint bei einigen längst nicht so beliebt gewesen zu sein, wie der Direktor mir weismachen wollte.«
»Das stimmt allerdings. Auch die Kollegen mochten ihn nicht unbedingt.«
»Was weißt du?«, fragte er ahnungsvoll.
»Leider viel zu wenig.
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