Renner & Kersting 03 - Mordsgier
die Frage nach deren Namen. Nun erfuhren alle von Thodes Diebstählen und Wohlfangs Erpressungen. Sie diskutierten noch lange über Motive und Charaktere.
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Die Tagesschau lief bereits, als Kersting bei Helga anrief und fragte, ob er kommen dürfe. Trotz aller Vertrautheit besaß er noch keinen Schlüssel zu ihrer Wohnung. Vielleicht lag es an diesem Wechselspiel von Nähe und Distanz, dass sie immer wieder neugierig aufeinander waren und immer wieder neue Facetten am anderen entdeckten.
Während er die Feithstraße entlang fuhr, haderte er mit sich selbst. Er vermochte nicht zu entscheiden, ob er zornig sein sollte über ihre Einmischung in seine Ermittlungen oder sich freuen über die neuen Hinweise. Wie oft hatte er ihr schon erklärt, dass eine Morduntersuchung eine gefährliche Sache war. Dass Amateure dabei nichts zu suchen hatten. Trotzdem mischte sie mit, wenn es um Kinder oder Kolleginnen ging. Manchmal hatte er das Gefühl, als würde sie das Verbrechen anziehen. Warum musste der Mord ausgerechnet an dem Gymnasium passieren, an dem ihre Klasse zu Gast war? Dass im Kollegium darüber gesprochen wurde, war selbstverständlich und dass sie andere Details erfuhr als der Polizei mitgeteilt wurden, vielleicht auch. Trotzdem gefiel es ihm nicht, von ihr über Sachverhalte aufgeklärt zu werden, die ihm oder seinen Kollegen entgangen waren. Oder war es der Neid des Profis auf das blinde Huhn, das auch mal ein Korn findet? In seiner jetzigen nervösen Stimmung mochte er die Frage nicht endgültig beantworten. Nur einer Sache war er ganz und gar sicher: Er liebte sie. Selbst wenn sie genau das Gegenteil dessen tat, was er wünschte. Er vermochte sich eine Zukunft ohne sie nicht vorzustellen. Im Laufe seines Lebens hatte er schönere Frauen kennen gelernt, auch anschmiegsamere. Frauen, die bereitwillig seine Wünsche erfüllten, um ihm zu gefallen – und die ihm trotzdem nichts bedeuteten. Obwohl Helga ihn liebte und respektierte, ließ sie sich nichts von ihm befehlen. Sie besaß ihre eigene Meinung, die der seinen oft nicht entsprach, und vertrat diese auch. Niemals gab sie klein bei um des lieben Friedens willen. Anfangs hatte sie sich noch überreden lassen, auf ihren Sport zu verzichten, damit ihnen mehr gemeinsame Zeit zur Verfügung stand. Doch nach und nach war sie stärker geworden. Sie ließ sich überzeugen, aber nur noch selten überreden. Manchmal glaubte er, dass die Stärke, die sie nun auszeichnete, von ihm auf sie übergegangen sei. Er war derjenige, der sich auf jede gemeinsame Stunde freute, der bereit war, seinen Dienstplan so einzurichten, dass er möglichst viel Zeit mit ihr verbringen konnte. Er spürte, wie sein Herz schneller schlug bei dem Gedanken an den gemeinsamen Abend.
Wie immer stand sie in der Tür und erwartete ihn. Die Haare verstrubbelt, die Jeans verwaschen und der Pullover altmodisch lang. Obwohl sie diese Art von bequemer Kleidung liebte, würde sie sich niemals so der Öffentlichkeit präsentieren. Da bevorzugte sie damenhafte Eleganz, die Distanz schaffte. Distanz zu unliebsamen Kollegen oder nörgelnden Eltern. Lieber ging sie das Risiko ein, dass die teure Kleidung von ihren Schülern mit Wasserfarbe oder Nutella beschmiert wurde, als sich so zu kleiden, wie die meisten Kinder es von ihren Müttern gewohnt waren. Mit diesen Frauen wollte sie nicht auf einer Stufe stehen, nicht einmal in Bezug auf etwas so Alltägliches wie Kleidung. Anfangs hatte er über ihren Spleen gelacht, doch allmählich verstand er sie.
Da er sich angekündigt hatte, hatte sie gekocht und alles für einen geruhsamen Abend vorbereitet. Im Hintergrund lief Mozart, der Wein hatte die richtige Temperatur, und die Lampen verbreiteten angenehm weiches Licht. Es gab Schwarzwurzel-Auflauf, der nur noch aus dem Ofen geholt zu werden brauchte. Inzwischen kannte er sich gut genug aus, um den Tisch zu decken, die Flasche zu öffnen und die Gläser zu füllen.
Später kuschelten sie nebeneinander auf dem Sofa, tranken von dem roten, süffigen Wein und redeten. Mit niemandem konnte er so offen reden und so witzig streiten wie mit Helga. Stundenlang vermochte sie über Nichtigkeiten zu diskutieren und immer wieder neue irrsinnige Argumente finden. Er hatte ihr den Statistikwitz seiner Kollegin erzählt, und sie hatte sofort in die gleiche Kerbe gehauen. Auch wenn sie den Nutzen von Statistiken grundsätzlich akzeptierte, bereitete es ihr diebisches Vergnügen, dagegen zu argumentieren. Er liebte ihr
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