Renner & Kersting 03 - Mordsgier
teils beunruhigt suchte sie nach dem Schlüssel für ihre Wohnungstür, und wie immer, wenn sie es eilig hatte, war er in die hinterste Ecke ihrer großen Tasche gerutscht. Das Klingeln hörte nicht auf. Sie eilte dem Geräusch nach in die Küche, wo sie das Telefon auf der Arbeitsplatte hatte liegen lassen. »Renner.«
»Endlich! Ich habe schon den ganzen Nachmittag versucht, dich zu erreichen. Kannst du kommen? Ich glaube, jemand hat versucht, mich umzubringen. Eben, als ich einen Spaziergang machte. Komm’ so schnell du kannst. Ich halte es allein nicht aus.« Mit Mühe erkannte sie die zitternde Stimme. Anna.
»Nun mal langsam. Warst du bei der Polizei?«
»Die lachen mich doch aus. Wer sollte mich umbringen wollen? Ich verstehe es ja selber nicht. Bitte, komm doch rüber!«
»Na gut«, gab Helga mehr aus Mitleid als aus Überzeugung nach. »Ich komme so schnell ich kann.«
Sie räumte ihre Sporttasche aus, hing Handtücher und Bademantel auf und legte Kamm, Föhn und Seife beiseite. Je länger sie über den Anruf nachdachte, umso mehr kam sie zu dem Schluss, dass Anna sich getäuscht haben musste. Die Frau war übernervös. Kein Wunder nach dem Erlebnis in den Ferien und dem plötzlichen Tod ihres Mannes. Da bildete man sich leicht etwas ein. Dazu das trübe Wetter, das jedem auf das Gemüt schlug. Wer weiß, was Anna erlebt und falsch gedeutet hatte. Helga seufzte. Da spielte ihr gutes Herz ihr wieder mal einen Streich. Sie hätte hart bleiben sollen. Aber andererseits mochte sie Anna nicht allein lassen. Erst recht nicht in dieser depressiven Stimmung. Die wenigen Freunde aus der Clique waren tot oder verletzt und konnten nicht helfen. Also zurück ins Auto und ab in die Hengsteyer Straße.
Als Anna öffnete, war Helga froh über ihren Entschluss. Anna sah aus wie der Tod. Als sie einen Schritt zurücktrat, um Helga einzulassen, stolperte sie beinahe über die Teppichkante. Ihre Hände zitterten, dass sie kaum den Schlüssel im Schloss drehen konnte. »Ich habe Angst«, flüsterte sie und versicherte sich mehrfach, dass die Tür fest verschlossen war.
Helga ging voran in die Küche. »Ich koche uns erst mal Tee.« Zum einen brauchte sie nach dem Saunabesuch dringend Flüssigkeit, zum anderen musste sie ihre Gedanken sammeln. So wie Anna aussah, genügte kein schnelles beruhigendes Tätscheln, was bedeutete, dass sie den gemütlichen Abend auf dem Sofa abschreiben konnte. Da Anna keine Kräuter mit beruhigender Wirkung mehr besaß, nahm Helga schwarzen Tee, den sie lange ziehen ließ. Derweil stand Anna in der Küchentür, schaute Helga zu und murmelte Unverständliches. Sie zog eine dicke Wolljacke eng um sich, obwohl die Wohnung total überheizt war, was eindeutig zeigte, dass sie noch immer unter Schock stand. Nach sieben Minuten goss Helga den Tee ab. »Holst du bitte Tassen?«, fragte sie. »Erst trinken wir Tee, danach erzählst du mir ganz genau, was geschehen ist, ja?« Sie sprach langsam wie zu einem Kind. Anna nickte fahrig.
Sie trank ihren Tee in kleinen, hastigen Schlucken. Zwischendurch hielt sie sich immer wieder an der Tasse fest, als wollte sie sich wärmen. Leise und zunächst stockend begann sie zu berichten. »Also, ich habe heute Nachmittag einen kleinen Spaziergang gemacht. Ich musste an die frische Luft, ich hielt es nicht aus im Haus. Ja, und als ich an der Schwerter Straße stand, da stieß mich jemand von hinten, genau in dem Moment, als ein Auto kam. Ich spüre den Stoß immer noch. Ich konnte mich nicht halten und bin auf die Fahrbahn geflogen. Dabei hatte ich wahnsinniges Glück. Die Gegenfahrbahn war leer und der Fahrer so geistesgegenwärtig, dass er ausweichen und einen Bogen fahren konnte. Mann, hat der geflucht.« In der Erinnerung daran keimte für einen Sekundenbruchteil ein Lächeln auf. Dann war die Angst wieder da. »Erinnerst du dich, als wir uns in der Stadt trafen, da wäre ich auch beinahe vor ein Auto gestolpert. Damals schon hatte ich das Gefühl, einen Stoß bekommen zu haben. Aber du hast so schnell zugepackt, ich hatte noch Schmerzen von den Prellungen im Rücken ... und außerdem erschien mir das so unglaubwürdig, dass ich nichts sagen mochte. Wer will denn eine alte Frau wie mich umbringen? Das ist so abwegig, dass ich ... dass ich es mir gar nicht vorstellen kann. Aber nach dem Vorfall heute ... Was soll ich nur tun?«
»Zuerst einmal die Polizei informieren.«
»Die lachen mich doch aus. Ich bin Hausfrau, besitze weder Geheimnisse noch Vermögen.
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