Renner & Kersting 03 - Mordsgier
hoffentlich ihre Besuche einstellen und woanders suchen.« Mit etwas Mühe unterdrückte Helga die passende Antwort. Ihre Zeit würde kommen. Spätestens, wenn sie diese gastfreundliche Stätte verließ. Sie schaute sich nach der Meeren um, fand sie aber nicht an ihrem gewohnten Platz. Also setzte Helga sich allein in die Ecke, eine Tasse Kaffee in beiden Händen. Mit ihren Gedanken war sie bei Wohlfang. Wer kannte sich im Lehrerzimmer aus? Wusste von Wohlfangs Marotte? War so geizig, dass er Reste jahrelang aufbewahrte? Und hasste den Kollegen?
Auf dem Weg zum Hof begegnete ihr die Meeren mit bösem Blick und zitternden Händen. Als sie Helga sah, blieb sie abrupt stehen. »Ich habe gerade Post gekriegt vom Rechtsanwalt eines Schülers. Angeblich sind meine Zensuren nicht objektiv. Ausgerechnet der Bengel, der nie Hausaufgaben erledigt, niemals lernt, sich aggressiv und unverschämt verhält, den soll ich im Unterricht unterdrückt und damit die Entfaltung seiner Persönlichkeit verhindert haben. Es ist zum Kotzen.«
Obwohl Helga ihr zustimmte – warum musste es ausgerechnet diese nette, vernünftige Kollegin treffen? – empfand sie doch auch ein klein wenig Schadenfreude, dass es den Lehrern am Gymnasium nicht besser erging als ihnen. Natürlich fuhren die Eltern dort gleich mit schwererem Kaliber auf als die meisten Grundschuleltern, trotzdem tat es gut, zu hören, dass nicht nur Grundschullehrer zu leiden hatten. Bedauerlicherweise reichte die Zeit gerade nur für ein paar tröstende Worte, jedoch nicht zu näheren Erkundigungen. Beide mussten in ihre Klassen.
Freitagmittag und Wochenende! Endlich. Sie hatte das Gefühl, noch nie so dringend zwei freie Tage gebraucht zu haben wie nach dieser Woche. Es war entschieden zuviel passiert. Sie überlegte, ob sie Ablenkung oder Ruhe benötigte. Heute Abend ins Konzert, in der Catacombe wurde Jazz gespielt, oder daheim auf der Couch liegen mit Tee und Buch? Falls Klaus Zeit hätte, würde ihm beides gefallen. Warum nicht nachmittags dies und abends das tun? Aber dann wollte sie nicht kochen. In der Kühltruhe befanden sich noch ein paar Fertiggerichte, sodass sie sogar auswählen konnte. Sie schob einen Auflauf in den Backofen, stellte die Uhr und setzte sich mit einer Tasse Cappuccino an den kleinen Küchentisch. Müßig blätterte sie die Rundschau durch, für die sie noch keine Zeit gefunden hatte. Doch ihre Gedanken gingen mal wieder eigene Wege: Schule, Kinder und Unterricht der letzten Woche hatten Nerven gekostet. Dazu die Aufregung um Anna. Diese hatte sie den Vorfall vom Dienstag fast vergessen lassen. Jetzt fiel er ihr wieder ein und sie beschloss, mit Verenas Mutter zu reden. Wenn der Anruf auch spät erfolgte und sie die Reaktion der Mutter schon vorher kannte, sollte diese doch wissen, dass Helga sie durchschaute.
Als die Lehrerin in ihrer Tasche nach der Liste mit den Telefonnummern ihrer Schüler suchte, fiel ihr die Visitenkarte von Daniela Wohlfang in die Hände. Sie erinnerte sich an die herzliche Einladung der Frau. Da der Mordfall offensichtlich noch nicht geklärt war, rief sie kurz entschlossen an, berichtete von ihren leider erfolglosen Bemühungen, noch Eigentum des Verstorbenen aufzutreiben und hoffte im Stillen auf eine Einladung. Die Frau freute sich, von der Kollegin ihres Mannes zu hören, und sie verabredeten einen Besuch noch am gleichen Nachmittag. Da durch dieses freundliche Gespräch ihre Laune sich gebessert hatte, telefonierte sie anschließend mit Verenas Mutter. Wie erwartet wusste diese angeblich von nichts und schob alles auf ihre Tochter. »Wenn meine Tochter meint, dass Sie im Unterricht rumschreien, ist es ihr gutes Recht, eine Liste zu führen. Schließlich ist Verena ein sensibles Kind, das kein lautes Gebrüll verträgt.«
Helga vergaß alle Vorsicht und Diplomatie und lachte laut. »Ich lade Sie ein, Verena während des Unterrichts oder während der Pausen zu beobachten. Das sensible Kind brüllt in der schlimmsten Gossensprache – hat es die bei Ihnen gelernt? – und schubst und stößt ihre Mitschüler, sodass die sich dauernd bei mir beschweren. Wenn sie so weiter macht, wird bald niemand mehr mit ihr spielen wollen.«
»Das ist eine Frechheit! Wie können Sie so über meine Tochter reden, Sie ...!« Nun wusste Helga, wo Verena ihre Ausdrücke gelernt hatte. Sie nutzte eine Pause, in der die andere Luft holte, um sich kurz zu verabschieden und legte den Hörer auf, bevor die Tirade fortgesetzt werden
Weitere Kostenlose Bücher