Reptilia
Hände über die massive Wand aus Stein gleiten. »Wie kommt er darauf?«
»Hier sind Schleifspuren am Boden«, erläuterte sie. »Mehrere schwere Gegenstände scheinen über den Boden gezogen worden zu sein. Sie verschwinden direkt unter der Wand. Außerdem befinden sich frische Kratzer auf den Platten rechts und links der Steinfiguren. Sie werden mich für verrückt erklären, aber ich sage Ihnen, dahinter befindet sich ein weiterer Raum. Diese Wand ist eine Tür, und sie wurde erst kürzlich benutzt.«
»Sagten Sie Schleifspuren?« Auf einmal fielen mir die vier Gräber draußen ein. Dieser Gedanke behagte mir überhaupt nicht. »Geben Sie mir bitte Ihre Taschenlampe«, bat ich Elieshi. Ich tastete mit meinen Fingerspitzen zwischen die Fugen der mächtigen Steinquader. »Tatsächlich«, keuchte ich. »Es gibt hier tatsächlich Steine, die nicht gefugt wurden. Könnte sich durchaus um einen Eingang handeln. Aber wo ist der Mechanismus, der ihn öffnet?« Ich richtete mich auf und sah mich um. »Suchen Sie nach Schaltern oder Hebeln«, sagte ich. »Nach irgendetwas, womit wir diese Tür aufbekommen.«
Ich war in meinem Element. Seit jeher hatten mich Geschichten über Geheimgänge, Gräber und Katakomben fasziniert. Die Erzählungen über Howard Carters Entdeckungen im Tal der Könige waren meine Bettlektüre gewesen. Mein Vater hatte mir schon die Sagen des klassischen Altertums vorgelesen, als ich selbst noch kaum lesen konnte. Ich musste lächeln bei dem Gedanken an das Spiel, das wir zwei gespielt hatten. Es hieß ›Erklär mir die Welt‹, und es begann immer damit, dass er seinen großen, schweren Atlas auf meine Knie legte und die Seiten durch seine Finger schnurren ließ. Wenn ich »Stopp« sagte, hielt er an, und ich durfte mit dem Finger auf eine bestimmte Region zeigen. Er musste mir dann alles darüber erzählen, was er wusste, angefangen mit den Temperaturen und der Bodenbeschaffenheit, den Pflanzen und Tieren bis hin zu den Bewohnern und ihrer Sprache. Er wusste alles über jeden Teil der Welt. Angefangen von den Wundern der Archäologie bis hin zu den Mythen und Legenden über angebliche Fabelwesen. In diesen Momenten hatte ich mich ihm sehr nah gefühlt. Doch während mir die abenteuerlichen Geschichten genügt hatten, war er der Praktiker, der hinausziehen musste, um die Wunder mit eigenen Augen zu sehen. Dieses Verhältnis hatte sich wie ein Schatten auf unsere gemeinsamen Jahre gelegt.
Ich atmete tief durch. Genau genommen war dies das erste Mal, dass ich selbst etwas entdeckt hatte. Plötzlich konnte ich ihn verstehen, konnte den Reiz des Abenteuers nachvollziehen und das kribbelnde Gefühl genießen. Hätte er mich jetzt hier sehen können, er wäre wahrscheinlich stolz auf mich gewesen. Doch nach einer halben Stunde intensiver Suche machte sich Ernüchterung breit. Es gab keine Schalter oder Hebel. Nichts, womit sich die angebliche Tür öffnen ließ.
» Was nun?« Elieshi wühlte in ihrer Umhängetasche und holte etwas von ihrem unerschöpflich scheinenden Vorrat an Müsliriegeln heraus. »Möchten Sie auch einen?« Ich nahm dankend an und sah mich um. Gedankenverloren kaute ich auf dem zähen Zeug herum. Mein Blick blieb an den beiden Steinstatuen hängen. Wir hatten sie zwar schon abgesucht, aber vielleicht hatten wir dabei etwas übersehen. Mit ihren aufgerissenen Augen und ihren gebleckten Zähnen sahen sie wirklich abschreckend aus. Zu abschreckend für meinen Geschmack. Ich konnte mir nicht vorstellen, dass sich die Erbauer dieser Stadt absichtlich in so dichter Nachbarschaft zu einem Wesen angesiedelt hatten, das sie aus tiefster Seele verabscheuten. Sie hätten genauso gut ein paar hundert Kilometer entfernt Wurzeln schlagen können. In meinen Augen war das ein Widerspruch, dem ich ihm bisher viel zu wenig Bedeutung beigemessen hatte.
»Welchen Teil der Statuen finden Sie am abstoßendsten«, fragte ich Elieshi zwischen zwei Bissen. Sie betrachtete die Skulpturen von oben bis unten und antwortete dann: »Auf jeden Fall das Gebiss. Wenn ich nur daran denke, was diese Zähne bei Sixpence angerichtet haben, läuft es mir kalt den Rücken herunter.«
»Genau. Das Maul und diese Zähne sind mit Abstand der schrecklichste Teil der Skulpturen. Wir sollten ihn uns näher ansehen.« Ich schob mir den Rest des Riegels in den Mund, strich meine Hände an der Hose ab und näherte mich den Ungeheuern.
Sie waren etwa drei Meter hoch, doch ihr Kopf neigte sich so weit herab, dass ich ihn mit
Weitere Kostenlose Bücher