Repuestos: Kolonie der Verschleppten (German Edition)
…“ Gerd ging um den Tisch herum und warf einen Blick auf den Bericht.
„Was issen das fürn Zeug?“
„Laut dem Artikel von neulich tilgt es Schmerzen komplett, aber vorrangig geht es darum, ein Leben selbst unter härtesten Beeinträchtigungen als behaglich zu empfinden. Das Bewusstsein des unmittelbar bevorstehenden eigenen Todes oder der eines geliebten Menschen vermag die Freude am Leben nicht zu trüben.“
„Das muss es sein, bestimmt. Generell gibt es die braune Suppe, doch die Härtefälle werden mit einem Mittel versorgt, das mir schon viel Staunen abverlangt hat. Viele unserer Amputierten sind erstaunlich heiter. Das beginnt schon kurz vor der OP und bleibt dann auf Dauer. Epikur, sagtest du?“
„Ja, lies doch selbst. Epikur 254.“
Edmund sah zu, wie Gerd las, stumm, aber mit bewegten Lippen. Das konnte er früher in der Schule schon bei ihm beobachten. Unwillkürlich schüttelte er den Kopf ... die Schule … der Schüler, das Greisengesicht.
„Ich denke, du hast recht“, flüsterte Gerd, „das ist genau das, was unsere Ampus so unglaublich ruhigstellt. Ob das in niedriger Dosis auch die Vorsuppe ‚veredelt‘?“
„Nein. In der braunen Brühe kann es nicht sein. Lies den Artikel zu Ende, dann wirst du es erfahren. Unsere Magensäure neutralisiert Epikur 254 und macht es unwirksam. Es funktioniert nur über Injektionen und Infusionen.“
„Hab keine Lust, weiterzulesen.“
Edmund faltete die Zeitung zusammen, um sie zurückzulegen – schlug sie aber sofort wieder auf, denn es war ihm, als habe er beim Umblättern flüchtig aus dem Augenwinkel die Abbildung eines alten Bekannten erhascht. Und richtig, da stand sie vor ihm, in ihrer vollendeten Tücke, Rolf Hennings Visage, neben der Meldung mit der Überschrift:
Mörder an den Wegner-Zwillingen legt
Geständnis ab
Er vertiefte sich in den Bericht, demzufolge Anfang Juni dieses Jahres zwei Mädchen unweit der Oberschweinstiege tot aufgefunden worden waren, der Täter noch am gleichen Tage gefasst und überführt werden konnte. Für Edmund war das weitere Geständnis des Mörders bedeutungsvoll, nämlich in Kelsterbach vor sechs Jahren vier Frauen erwürgt zu haben.
Edmund empfand zweifaches Glück und Befreiung.
Glück darüber, dass endlich für alle, die es anging – allen voran Lydia – Henning ins rechte Licht gerückt worden war, und darüber, dass der nunmehr sechsfache Mörder hinter Gittern saß – für immer, hoffentlich.
Befreiung, weil der Kerl lebte und damals vor den Lofoten nicht abgesoffen war.
Über das Rätsel, wie er dem Meer entkommen konnte und wo er sich all die Zeit aufgehalten haben mochte, sollte sich den Kopf zerbrechen, wer wollte. Dass er über das Gefühl, der Verantwortung an seinem Tod enthoben zu sein, Befreiung empfand, erstaunte ihn über alle Maßen, hatte ihn doch zu keiner Zeit sein damaliges Verhalten belastet – wie er meinte.
Er hielt das Zeitungsblatt verkrampft in Händen und starrte auf das Mördergesicht. Gerd schreckte ihn aus der Versunkenheit. „Was ist los – gibt’s noch mehr zu Epikur?“ Edmund sah zu ihm hinüber, zuckte mit den Schultern und legte zerstreut die Zeitung zusammen. Sie verließen die Lesestube. Eine Schar Kinogänger strömte aus dem Lichtspieltheater. „Das Schweigen der Lämmer“ war gerade zu Ende gegangen. Die beiden schlängelten sich durch die Menge und dann sagte Gerd:
„Die auf Epikur 254 nicht ansprechen, die drehen durch. Wie der Bischof.“
Eine weitere Gruppe schwatzender Spender humpelte an ihnen vorüber und verschwand in der Sperbergasse.
„Ich geh heut abend wieder in den Lesesaal zur nächsten Politrunde. Kommst du mit?“
„Unbedingt. Jetzt muss ich mich bei den Sanitätern melden. In einer halben Stunde werde ich wiederum vermessen.“
„Da wünsche ich dir, dass keines deiner Gliedmaßen zu einer vorliegenden Nachfrage passt.“
Gerd begleitete ihn noch zum Sanitätsgebäude. Edmund stieg die drei Stufen empor und Gerd hob beide Fäuste mit gedrückten Daumen in die Höhe.
***
Hans Rehbein setzte zum dritten Mal an, ihre Nummer zu wählen, und legte zum dritten Mal den Hörer auf den Apparat zurück. Die Vorwahl schaffte er anstandslos, der Teufel steckte in der Rufnummer. Seine Hand zitterte derart, dass sie die dritte Zahl im Doppelklick nahm – eine unüberwindliche Hürde, wenn es ihm nicht gelang, sich zu beruhigen. Er stand auf, ging zum Fenster hinüber und schaute von der
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