Requiem (Amor-Trilogie) (German Edition)
»Hier im Auto sind wir in Sicherheit.« Aber sie beugt sich vor und sagt mit scharfer Stimme zu Tony. »Können Sie nicht schneller fahren?«
Ich muss an die neue Mauer denken, von einem sich drehenden Licht angestrahlt, von Blut rot gefärbt.
Was, wenn es mehr von ihnen gibt? Was, wenn sie zu uns kommen?
Ich habe ein Bild von Lena vor Augen, die sich dort draußen bewegt, durch die Straßen schleicht, sich zwischen Schatten duckt, ein Messer in der Hand. Einen Moment versagt meine Lunge ihren Dienst.
Aber nein. Sie weiß nicht, dass ich Alex und sie verraten habe. Das weiß niemand.
Außerdem ist sie wahrscheinlich tot.
Und selbst, wenn nicht – selbst, wenn sie die Flucht auf wundersame Weise überlebt hat und irgendwie in der Wildnis dahinvegetiert –, würde sie sich nie den Widerständlern anschließen. Sie würde nie gewalttätig oder rachsüchtig. Nicht Lena, die beinahe in Ohnmacht fiel, wenn sie sich nur in den Finger stach, die noch nicht mal einen Lehrer anlügen konnte, wenn sie zu spät kam. Sie hätte nicht die Nerven dafür.
Oder?
lena
D
ie Planung dauert bis tief in die Nacht. Der Mann mit den sandfarbenen Haaren, der Colin heißt, hat sich mit Beast und Pippa, Raven und Tack, Max, Cap, meiner Mutter und ein paar anderen, die er aus seiner Gruppe ausgewählt hat, in einen der Wohnwagen zurückgezogen. Ich weiß, dass sie etwas Großes vorhaben – so groß wie die Zwischenfälle, die einen Teil der Mauer aus den Grüften gesprengt und eine Polizeiwache in die Luft gejagt haben, wenn nicht noch größer. Aus Andeutungen, die Max gemacht hat, habe ich geschlossen, dass diese neue Rebellion nicht auf Portland beschränkt ist. Wie bei den anderen Zwischenfällen versammeln sich Sympathisanten und Invaliden in Städten im ganzen Land und verwandeln ihre Wut und ihre Energie in Demonstrationen des Widerstands.
Irgendwann tauchen Max und Raven mit abgespannten und ernsten Gesichtern aus dem Wohnwagen auf, um im Wald zu pinkeln, aber als ich Raven bitte, dass sie mich am Treffen teilnehmen lässt, schneidet sie mir das Wort ab.
»Geh ins Bett, Lena«, sagt sie. »Es ist alles unter Kontrolle.«
Es muss beinahe Mitternacht sein; Julian schläft schon seit Stunden. Ich kann mir nicht vorstellen, mich ausgerechnet jetzt hinzulegen. Es fühlt sich an, als wäre mein Blut voller Ameisen – meine Arme und Beine kribbeln, wollen sich unbedingt bewegen, irgendetwas tun. Im Versuch, das Gefühl abzuschütteln, gehe ich im Kreis und schäume vor Wut – ich ärgere mich über Julian, bin wütend auf Raven und denke an all die Dinge, die ich ihr gerne an den Kopf werfen würde.
Ich war diejenige, die Julian aus dem Untergrund befreit hat. Ich war diejenige, die ihr Leben riskiert hat, um sich nach New York zu schleichen und ihn zu retten. Ich war diejenige, die nach Waterbury reingegangen ist; ich war diejenige, die herausgefunden hat, dass Lu eine Verräterin war. Und jetzt sagt Raven mir, ich solle ins Bett gehen, als wäre ich eine ungezogene Fünfjährige.
Ich trete gegen eine Blechtasse, die halb unter Asche begraben am Rand eines heruntergebrannten Lagerfeuers liegt, und sehe zu, wie sie fünf Meter weit fliegt und von der Seite eines Wohnwagens abprallt. Ein Mann ruft: »Hey, immer mit der Ruhe!« Aber es ist mir egal, ob ich ihn geweckt habe. Es ist mir egal, ob ich das ganze verdammte Lager aufwecke.
»Kannst du nicht schlafen?«
Erschrocken fahre ich herum. Ein Stückchen hinter mir sitzt Coral mit angezogenen Beinen neben den verglühenden Überresten eines weiteren Lagerfeuers. Dann und wann schürt sie es halbherzig mit einem Stock.
»Hey«, sage ich vorsichtig. Seit Alex weg ist, hat sie fast nichts mehr gesagt. »Ich habe dich gar nicht gesehen.«
Ihr Blick begegnet meinem, sie lächelt schwach. »Ich kann auch nicht schlafen.«
Obwohl ich immer noch ganz kribbelig bin, ist es komisch, so über ihr aufzuragen. Ich setze mich auf einen der rauchgeschwärzten Stämme, die das Lagerfeuer umringen. »Machst du dir Sorgen wegen morgen?«
»Nicht wirklich.« Sie stochert erneut im Feuer und sieht zu, wie es kurz aufflammt. »Es spielt schließlich keine Rolle für mich, nicht wahr?«
»Was meinst du damit?« Zum ersten Mal seit einer Woche betrachte ich sie genau; unbewusst bin ich ihr aus dem Weg gegangen. Sie sieht traurig und hohl aus: Ihre cremeweiße Haut wirkt wie eine Hülse – ausgesaugt.
Sie zuckt die Achseln und hält den Blick auf die Glut gerichtet. »Ich meine, dass
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