Requiem (Amor-Trilogie) (German Edition)
dem Boden auf und zerbricht in tausend Stücke wie eine Porzellanpuppe.
Plötzlich sind alle Leute weg. Ich bin allein auf einer Straße und vor mir beugt sich ein Mädchen mit langen verfilzten Haaren über die zerbrochene Puppe und setzt sie sorgfältig wieder zusammen, wobei es vor sich hinsummt. Es ist ein heller und ganz ruhiger Tag. Jeder meiner Schritte knallt wie ein Schuss, aber das Mädchen rührt sich nicht, bis ich direkt vor ihm stehe.
Dann blickt es auf und es ist Grace.
»Siehst du?«, sagt sie und streckt mir die Puppe entgegen. »Ich habe sie repariert.«
Und ich sehe, dass das Gesicht der Puppe mein eigenes ist, überzogen von Tausenden winzigen Rissen und Sprüngen.
Grace wiegt die Puppe im Arm. »Wach auf, wach auf«, sagt sie säuselnd.
»Wach auf.«
Ich schlage die Augen auf: Meine Mutter steht über mir. Ich setze mich mit steifem Körper auf, beuge und strecke Finger und Zehen, um wieder Gefühl darin zu bekommen. Es ist neblig und der Himmel wird gerade erst hell. Der Boden ist mit Raureif bedeckt, der im Schlaf durch meine Decke gedrungen ist, und der frühmorgendliche Wind ist kalt und schneidend. Das Lager ist voller Geschäftigkeit: Um mich herum regen sich die Leute, stehen auf, bewegen sich wie Schatten durch die Dämmerung. Feuer entflammen und dann und wann höre ich Gesprächsfetzen, einen gerufenen Befehl.
Meine Mutter streckt eine Hand aus und hilft mir auf. Erstaunlicherweise sieht sie ausgeruht und wach aus. Ich stampfe die Steifheit aus meinen Beinen.
»Ein Kaffee wird dich in Schwung bringen«, sagt sie.
Es überrascht mich nicht, dass Raven, Tack, Pippa und Beast schon auf sind. Sie stehen mit Colin und einem Dutzend anderen neben einer der größeren Feuerstellen, ihr Atem wölkt auf, während sie sich leise unterhalten. Auf dem Feuer steht ein Topf mit Kaffee: bitter und voller Kaffeesatz, aber heiß. Schon nach ein paar Schlucken fühle ich mich besser und wacher. Aber ich schaffe es nicht, etwas zu essen.
Raven hebt die Augenbrauen, als sie mich sieht. Meine Mutter macht eine Handbewegung in ihre Richtung, eine resignierte Geste, und Raven dreht sich wieder zu Colin.
»Also gut«, sagt er. »Wie gestern Nacht besprochen, betreten wir die Stadt in drei Gruppen. Die erste Gruppe geht in einer Stunde los, um die Lage auszukundschaften und Kontakt zu unseren Freunden aufzunehmen. Der Haupttrupp rührt sich nicht vor der Detonation um zwölf Uhr. Die dritte Gruppe folgt unmittelbar danach und macht sich direkt auf den Weg zum Ziel …«
»Hey.« Julian taucht hinter mir auf. Seine Augen sind noch immer verquollen – er ist gerade erst wach geworden und seine Haare sind hoffnungslos verstrubbelt. »Ich habe dich gestern Nacht vermisst.«
Gestern Nacht konnte ich mich nicht überwinden, mich neben Julian zu legen. Stattdessen habe ich eine übrige Decke gefunden und mir neben hundert anderen Frauen draußen ein Bett gemacht. Ich habe lange zu den Sternen hochgestarrt und daran gedacht, wie ich das erste Mal mit Alex in der Wildnis war – wie er mich in einen der Wohnwagen führte und die Plane aufrollte, die als Dach diente, so dass wir den Himmel sehen konnten.
So viel zwischen uns ist ungesagt geblieben; das ist die Gefahr und das Schöne an einem Leben ohne das Heilmittel. Überall herrscht Wildnis und Verworrenheit und der Weg ist nie eindeutig.
Julian streckt die Hand nach mir aus und ich mache einen Schritt zurück.
»Ich konnte nicht schlafen«, sage ich. »Ich wollte dich nicht wecken.«
Julian runzelt die Stirn. Ich kann ihm nicht in die Augen sehen. Im Laufe der letzten Woche habe ich akzeptiert, dass ich Julian nie so sehr lieben werde, wie ich Alex geliebt habe. Aber jetzt überwältigt mich diese Einsicht, stellt sich wie eine Mauer zwischen uns. Ich werde Julian nie so sehr lieben, wie ich Alex geliebt habe.
»Was ist los mit dir?« Julian sieht mich misstrauisch an.
»Nichts«, sage ich und wiederhole dann noch einmal: »Nichts.«
»Hat irgendwas …«, hebt Julian an, als Raven herumfährt und ihn böse anfunkelt.
»Hey, Juwel«, bellt sie, wie sie Julian in letzter Zeit immer nennt, wenn sie sich über ihn ärgert. »Hier wird nicht gequatscht, okay? Halt den Mund oder hau ab.«
Julian verstummt. Ich wende den Blick Colin zu und Julian versucht nicht mehr, mich zu berühren oder näher zu rücken. Der Himmel ist jetzt mit langen Streifen in Orange und Rot gefärbt, wie die Tentakel einer riesigen Qualle, die in einem milchweißen
Weitere Kostenlose Bücher