Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Requiem (Amor-Trilogie) (German Edition)

Requiem (Amor-Trilogie) (German Edition)

Titel: Requiem (Amor-Trilogie) (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Lauren Oliver
Vom Netzwerk:
nicht begriffen, oder?« Ich zittere. »Ich bin kein Kind mehr. Ich bin erwachsen geworden. Ich bin ohne dich erwachsen geworden. Und du kannst mir nicht sagen, was ich zu tun habe.«
    Ich erwarte, dass sie zurückgiftet, aber sie seufzt nur und starrt die orangefarbene Glut an, die unter der Asche begraben liegt wie ein beerdigter Sonnenuntergang. Dann sagt sie unvermittelt. »Erinnerst du dich an die Geschichte von König Salomo?«
    Ihre Frage ist so unerwartet, dass ich einen Augenblick gar nicht sprechen kann. Ich kann nur nicken.
    »Erzähl sie mir«, sagt sie. »Erzähl mir, woran du dich erinnerst.«
    Alex’ Nachricht, die immer noch in dem Beutel um meinen Hals steckt, scheint auch zu glimmen, sie brennt an meiner Brust. »Zwei Mütter streiten sich um ein Kind«, sage ich vorsichtig. »Sie beschließen, das Baby zweizuteilen. Der König verfügt es.«
    Meine Mutter schüttelt den Kopf. »Nein. Das ist die abgeänderte Version; so lautet die Geschichte in Das Buch Psst . In der echten Geschichte teilen die Mütter das Baby nicht in zwei Teile.«
    Ich werde ganz ruhig, wage kaum zu atmen. Ich fühle mich, als schwankte ich an einem Abgrund, an der Grenze des Verstehens, und ich bin mir noch nicht sicher, ob ich sie übertreten will.
    Meine Mutter fährt fort. »In der echten Geschichte beschließt König Salomo, dass das Kind zweigeteilt werden soll. Aber das ist nur ein Test. Eine Mutter stimmt zu; die andere Frau sagt, sie verzichtet ganz auf das Baby. Sie will nicht, dass das Kind verletzt wird.« Meine Mutter sieht mich an. Selbst in der Dunkelheit kann ich das Funkeln in ihren Augen erkennen, die Klarheit, die nie daraus verschwunden ist. »So findet der König heraus, welche die echte Mutter ist. Sie ist bereit, auf ihren Anspruch zu verzichten, ihr Glück zu opfern, damit dem Baby nichts passiert.«
    Ich schließe die Augen. Hinter meinen Lidern glüht es: blutrote Morgendämmerung, Rauch und Feuer, Alex hinter der Asche. Ganz plötzlich verstehe ich alles. Ich verstehe die Bedeutung seiner Nachricht.
    »Ich versuche dich nicht zu bevormunden, Lena«, sagt meine Mutter mit leiser Stimme. »Ich will nur, dass dir nichts passiert. Das wollte ich immer.«
    Ich öffne die Augen. Die Erinnerung an Alex, wie er hinter dem Zaun steht, während ihn ein schwarzer Schwarm einhüllt, verblasst. »Es ist zu spät.« Meine Stimme klingt hohl und gar nicht wie meine. »Ich habe Dinge gesehen … ich habe Dinge verloren, die du nicht verstehen kannst.«
    Mehr habe ich noch nie über Alex preisgegeben. Glücklicherweise bohrt sie nicht nach. Sie nickt nur.
    »Ich bin müde.« Ich stehe auf. Auch mein Körper fühlt sich fremd an, als wäre ich eine Puppe, die an den Nähten aufgeht. Alex hat sich schon einmal geopfert, damit ich am Leben bleiben und glücklich sein konnte. Jetzt hat er es wieder getan.
    Ich war so blöd. Und jetzt ist er weg; ich habe keine Möglichkeit, ihn zu erreichen und ihm zu sagen, dass ich es jetzt verstehe.
    Ich habe keine Möglichkeit, ihm zu sagen, dass ich ihn immer noch liebe.
    »Ich werde versuchen, noch ein bisschen zu schlafen«, sage ich und vermeide es, meine Mutter anzusehen.
    »Das ist eine gute Idee«, sagt sie.
    Ich bin schon losgegangen, als sie noch mal nach mir ruft. Ich drehe mich um. Das Feuer ist jetzt völlig runtergebrannt und ihr Gesicht wird von der Dunkelheit verschluckt.
    »Wir machen uns im Morgengrauen auf den Weg zur Mauer«, sagt sie.

hana
    I
ch kann nicht schlafen.
    Morgen werde ich nicht länger ich selbst sein. Ich werde über den weißen Teppich schreiten, unter dem weißen Baldachin stehen und Treue und meine guten Absichten geloben. Anschließend werden weiße Blütenblätter auf mich regnen, die von den Priestern, den Gästen und meinen Eltern gestreut werden.
    Ich werde wiedergeboren: leer, rein, konturlos, wie die Welt nach einem Schneesturm.
    Ich bleibe die ganze Nacht wach und sehe, wie sich die Morgendämmerung langsam über den Horizont schiebt und die Welt weiß überzieht.

lena
    I
ch stehe in einer Menschenmenge und sehe, wie sich zwei Kinder um ein Baby streiten. Sie spielen Tauziehen und zerren es gewaltsam hin und her. Das Baby ist blau angelaufen, und ich weiß, dass sie es zu Tode schütteln werden. Ich versuche mich durch die Menge zu drängen, aber um mich herum tauchen immer mehr Leute auf, die sich mir in den Weg stellen und jede Bewegung unmöglich machen. Und dann, genau wie ich befürchtet habe, fällt das Baby runter: Es schlägt auf

Weitere Kostenlose Bücher