Requiem (Amor-Trilogie) (German Edition)
träumen.
»Hervorragende Idee, Herr Bürgermeister. Ich habe gerade zu Ginny gesagt …«
»Und wieso sollten sie auch Strom kriegen? Wieso sollten sie überhaupt etwas von uns kriegen?«
»… bald ein Ende des Problems.«
Mein Vater ist schon da; ich sehe, dass er mit Patrick Riley redet, dem Mann, der nach Thomas Finemans Ermordung letzten Monat die Führung der Vereinigung für ein Deliria-freies Amerika übernommen hat. Riley ist offenbar extra von New York hergekommen, wo der Verband seinen Hauptsitz hat.
Ich muss daran denken, was Cassandra mir erzählt hat – dass die VDFA , und Fred auch, mit den Invaliden zusammengearbeitet hat, dass beide Angriffe geplant waren –, und habe das Gefühl, verrückt zu werden. Ich weiß nicht mehr, was ich glauben soll. Vielleicht sperren sie mich zu Cassandra in die Grüfte und nehmen mir meine Schnürsenkel ab.
Ich muss den plötzlichen Drang zu lachen unterdrücken.
»Entschuldigung«, sage ich, sobald sich Freds Griff um meinen Ellbogen lockert und ich die Gelegenheit zur Flucht erkenne. »Ich hole mir etwas zu trinken.«
Fred lächelt mich an, aber seine Augen sind dunkel. Die Warnung ist deutlich: Benimm dich . »Natürlich«, sagt er leichthin. Als ich das Wohnzimmer durchquere, drängt sich die Menge dicht um ihn und entzieht mich seinem Blick.
Vor den großen Erkerfenstern, die auf den gepflegten Rasen der Hargroves und die makellosen Blumenbeete hinausführen, in denen die Blumen nach Größe, Art und Farbe sortiert sind, ist ein Tisch mit einer Tischdecke gedeckt. Ich bitte um Wasser und versuche so wenig wie möglich aufzufallen, um so vielleicht immerhin ein paar Minuten den Gesprächen aus dem Weg gehen zu können.
»Da ist sie ja! Hana! Erinnerst du dich an mich?« Von der anderen Seite des Raumes aus versucht Celia Briggs, die neben Steven Hilt steht und ein Kleid trägt, das aussieht, als wäre sie aus Versehen in einen Riesenhaufen blauen Chiffon gestolpert, wie wild meine Aufmerksamkeit zu erregen. Ich sehe weg und tue so, als hätte ich sie nicht bemerkt. Als sie sich, Steven am Ärmel, auf mich zudrängt, gehe ich hinaus in die Eingangshalle und schnell auf den hinteren Teil des Hauses zu.
Ich frage mich, ob Celia wohl weiß, was letzten Sommer passiert ist. Dass Steven und ich uns mit heißem Atem anbliesen und Gefühle zwischen unseren Zungen hin- und herwanderten. Vielleicht hat Steven es ihr erzählt. Vielleicht lachen sie jetzt darüber, jetzt, da wir alle sicher jenseits jener aufwühlenden, beängstigenden Nächte sind.
Ich gehe zu der verglasten Veranda hinten am Haus, aber auch die ist voller Leute. Als ich gerade an der Küche vorbei will, höre ich Mrs Hargroves Stimme: »Nehmen Sie bitte den Eimer Eis mit raus. Der Barkeeper hat fast keins mehr.«
In der Hoffnung, ihr aus dem Weg zu gehen, schlüpfe ich in Freds Arbeitszimmer und mache schnell die Tür hinter mir zu. Mrs Hargrove wird mich sonst nur mit fester Hand zurück zur Party führen, zurück zu Celia Briggs und dem Raum voll mit all diesen Zähnen. Ich lehne mich an die Tür und atme langsam aus.
Mein Blick ruht auf dem einzigen Gemälde im Zimmer: dem Mann – dem Jäger – und den niedergemetzelten Tierkadavern.
Allerdings sehe ich diesmal nicht weg.
Irgendetwas stimmt nicht mit dem Jäger. Er ist zu gut gekleidet, mit einem altmodischen Anzug und polierten Stiefeln. Ich trete zwei Schritte näher, entsetzt und unfähig, den Blick abzuwenden. Die Tiere, die an Fleischerhaken hängen, sind gar keine Tiere.
Es sind Frauen.
Leichen, menschliche Leichen, die von der Decke hängen und auf dem Marmorfußboden aufgehäuft sind.
Neben der Signatur des Künstlers steht der Titel des Gemäldes: Der Blaubart-Mythos oder Die Gefahren des Ungehorsams .
Ich verspüre einen Drang, den ich nicht genau benennen kann – zu sprechen, zu schreien oder wegzurennen. Stattdessen setze ich mich auf den Ledersessel mit der starren Lehne hinter dem Schreibtisch, beuge mich vor, lege meinen Kopf auf die Arme und versuche mich daran zu erinnern, wie man weint. Aber außer einem leichten Kratzen in der Kehle und Kopfschmerzen kommt nichts.
Ich weiß nicht, wie lange ich schon so dasitze, als ich höre, wie eine Sirene näherkommt. Dann ist das Zimmer plötzlich in Farbe getaucht: rote und weiße Lichtblitze dringen abwechselnd durch die Fensterscheibe. Die Sirenen ertönen weiterhin – und dann merke ich, dass sie überall sind, nah und fern, manche heulen schrill durch die
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