Requiem (Amor-Trilogie) (German Edition)
alles andere überlagern und das Geräusch des sich nähernden Wagens ausblenden.
Und dann, wie aus dem Nichts, ist er da: der dröhnende, schnaufende Motor, die Fensterscheiben, die das Sonnenlicht reflektieren und mich blenden, die quietschenden Reifen, als der Fahrer anzuhalten versucht. Ich fühle nichts als Schmerz und stürze – ich glaube, ich sterbe; ich sehe, wie sich der Himmel über mir dreht, sehe Alex’ lächelndes Gesicht – und dann spüre ich den Aufprall auf dem harten Asphalt unter mir. Es verschlägt mir den Atem und ich drehe mich auf den Rücken, meine Lunge stottert, kämpft um Luft.
Einen verwirrten Moment lang, während ich den blauen Himmel betrachte, der hoch oben zwischen den Hausdächern aufgespannt ist, vergesse ich, wo ich bin. Ich schwebe, treibe über eine Oberfläche aus blauem Wasser. Ich weiß nur, dass ich nicht tot bin; mein Körper gehört immer noch mir. Ich beuge die Hände und strecke die Füße, nur um sicherzugehen.
Wundersamerweise ist es mir gelungen, nicht mit dem Kopf aufzuschlagen.
Türen knallen. Stimmen rufen. Mir fällt wieder ein, dass ich weg muss – ich muss aufstehen. Grace . Aber bevor ich reagieren kann, packen mich grobe Hände an den Armen und reißen mich hoch. Ich nehme alles blitzlichtartig wahr – schwarze Anzüge, Pistolen, grimmige Gesichter.
Ganz schlecht.
Mein Instinkt gewinnt die Oberhand und ich fange an, mich zu winden und um mich zu treten. Ich beiße dem Wachmann, der mich gepackt hält, in die Hand, aber er lässt mich nicht los, und ein weiterer Wachmann tritt vor und schlägt mich ins Gesicht. Der Schlag brennt und ich sehe Sterne. Ich spucke ihn blindlings an. Ein anderer Wachmann – es sind insgesamt drei – richtet seine Waffe auf meinen Kopf. Seine Augen sind so schwarz und kalt wie geschliffener Stein. Nicht voller Hass – die Geheilten hassen nicht, sie hassen nicht, aber sie verspüren auch kein Mitgefühl –, sondern voller Abscheu, als wäre ich eine besonders widerwärtige Insektenart. Da weiß ich, dass ich sterben werde.
Es tut mir leid, Alex. Und Julian. Es tut mir leid.
Es tut mir leid, Grace.
Ich schließe die Augen.
»Halt!«
Ich öffne die Augen. Ein Mädchen steigt aus dem Auto.
Sie trägt das weiße Musselinkleid einer frisch getrauten Braut. Ihre Haare sind kunstvoll um ihren Kopf geschlungen und hochgesteckt, und ihre Eingriffsnarbe ist mit Make-up betont, so dass sie aussieht wie ein kleiner bunter Stern direkt unter ihrem linken Ohr. Sie ist schön; sie sieht genau so aus wie die Bildnisse von Engeln, die wir in der Kirche gesehen haben.
Dann begegnen sich unsere Blicke und mir dreht sich der Magen um. Der Erdboden öffnet sich unter mir. Ich kann mich kaum aufrecht halten.
»Lena«, sagt sie ruhig. Es ist eher eine Feststellung denn ein Gruß.
Ich bringe keinen Ton heraus. Ich kann ihren Namen nicht aussprechen, obwohl er in meinem Kopf kreischt und hallt.
Hana.
»Wo fahren wir hin?«
Hana dreht sich zu mir um. Das sind die ersten Worte, die ich herausgebracht habe. Einen Moment wirkt sie überrascht und noch irgendwie anders. Erfreut? Schwer zu sagen. Ihr Ausdruck hat sich verändert und ich kann ihre Miene nicht mehr deuten.
»Zu mir nach Hause«, sagt sie nach einer kurzen Pause.
Ich könnte laut auflachen. Sie ist so unglaublich ruhig, als würde sie mich zu sich einladen, um in der BEMF nach Musik zu suchen, es uns auf ihrem Sofa bequem zu machen und einen Film zu gucken.
»Du zeigst mich nicht an?« Meine Stimme klingt sarkastisch. Ich weiß, dass sie mich anzeigen wird; ich wusste es in dem Moment, als ich die Narbe sah, die Flachheit in ihren Augen wie ein Teich, der all seine Tiefe verloren hat.
Entweder bemerkt sie den herausfordernden Tonfall nicht oder sie beschließt ihn zu ignorieren. »Doch«, sagt sie einfach. »Aber jetzt noch nicht.« Etwas blitzt kurz in ihrem Gesicht auf – eine vorübergehende Unsicherheit – und sie scheint noch etwas sagen zu wollen. Stattdessen wendet sie sich wieder dem Fenster zu und kaut auf ihrer Unterlippe.
Das Lippenkauen beunruhigt mich. Es ist ein Riss in ihrer ruhigen Fassade, eine leichte Welle, die ich nicht erwartet habe. Das ist die alte Hana, die hinter dieser glänzenden neuen Version hervorlugt, und davon zieht sich mir erneut der Magen zusammen. Ich werde von dem vorübergehenden Drang überwältigt, meine Arme um sie zu schlingen, ihren Geruch einzuatmen – zwei Tropfen Vanille in den Armbeugen und Jasmin am Hals
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